Jona nach der Rettung aus dem Bauch des Wals

Abschied vom Jona-Denken

Die Geschichte des Propheten Jona zeigt: Sei dir in deinem Urteil nicht zu sicher. Bleib in deinem Herzen beweglich. Und lass immer eine Tür offen für das Erbarmen Gottes.

Alles klar! Immer wieder begegne ich Christen, für die alles eindeutig ist. Sie wissen Bescheid – ohne Interpretationsspielraum, ohne den Hauch eines Zweifels. Sie sind sich absolut sicher, dass sie auf der richtigen Seite sind. Und Andersdenkende, anders Lebende — natürlich auf der falschen.

Immer wieder wurden wir als freikirchliche Gemeindeleitung in den letzten Jahren von einzelnen Mitgliedern angesprochen, die wünschten, dass wir bestimmte Themen, die ihnen wichtig sind, per Ansage von oben regeln. Wir sollten, so die Forderung, Eindeutigkeit herstellen, indem wir unmissverständliche Regeln etablierten und durchsetzten. Dahinter steckte implizit immer auch die konkrete Erwartung, dass genau die Position, die sie selbst für die einzig richtige halten, als verbindlich für alle anderen erklärt wird.

Von dem Wunsch nach klarer Eindeutigkeit ist der Schritt hin zu einem engen Horizont und zu einem engen Herzen ein sehr kleiner. Leider sind besonders Menschen, die ihren Glauben sehr ernst nehmen, gefährdet, sich als „Kampfchristen“ in unbarmherziger Rechthaberei, in einem Sich-abgrenzen-Müssen und in einem knallharten Freund-Feind-Schema zu verlieren. Gläubige, die immer alles unmissverständlich „richtig“ geregelt haben wollen, entwickeln oft einen unfassbar hohen Leistungsdruck – auf sich selbst und auf andere.

Mittlerweile werde ich sehr skeptisch, wenn Christen sich bis ins Detail zweitrangiger Streitfragen allzu sicher sind, was falsch und was richtig ist, wenn großes Selbstbewusstsein im Glauben gepaart ist mit ebenso großer Unbarmherzigkeit. Ich werde hellhörig bei Pauschalurteilen und kompromissloser Abgrenzung. Ich wehre mich vehement gegen Schwarz-Weiß-Denken, wenn dahinter der Wunsch nach klaren Fronten steckt. Das ist ungesundes und gefährliches, wie ich es nenne: „Jona-Denken“.

Der Prophet Jona (im Alten Testament) wünscht sich ebenfalls Eindeutigkeit und pflegt ein klares Freund-Feind-Schema. Er spart nicht mit harten Urteilen über andere. Konstruktive, weiterbringende Ansätze sind bei ihm nicht einmal im Ansatz zu erkennen. In Jona, Kapitel 4, ist die Stadt Ninive gerade vor dem eigentlich angekündigten Untergang gerettet. Jonas Begeisterung darüber hält sich sehr in Grenzen. Ninive ist eine Problemstadt, und dieses Problem hätte Gott Jonas Auffassung nach besser anders gelöst als mit der Einladung zur Umkehr. Die „gerechte Strafe“ für die Einwohner von Ninive – dann wäre für Jona alles wieder in bester Ordnung. Gott aber investiert viel Zeit, Mühe und Einfallsreichtum, um Jona für eine andere Sicht der Dinge zu gewinnen.

Recht haben oder dazulernen?

Das vierte Kapitel des Jona-Buches schildert die Abschlussdiskussion zwischen Gott und seinem Problempropheten. In einem geradezu therapeutischen setting reflektiert Gott mit Jona das Geschehene. Jona liegt sozusagen auf der Couch bei Gott. Gott setzt in einer angeregten Diskussion Fragezeichen hinter Jonas Aussagen und fordert ihn heraus, eigene Antworten zu finden und vielleicht auch neue Antworten zu formulieren. Er will ihn einladen, seine festgefahrene Position zu überdenken. Gott lädt Jona damit auch ein, ihn selbst besser kennenzulernen.

Jona hat sich ein eindimensionales Gottesbild zurechtgelegt und hält eisern daran fest, obwohl es hinten und vorne nicht passt, obwohl er selbst daran zugrunde zu gehen droht. Der lebendige Gott ist so anders, als es Jona lieb ist!

Jonas „Ich wusste es“ (Kap. 4,2) ist da symptomatisch. Jona ist sich seiner Sache so sicher! Das hebt sich deutlich ab von den vorsichtigen Äußerungen in den Kapiteln zuvor: der Kapitän (Kap. 1,6) und der König (Kap. 3,9) reden auch über Gott. Sie formulieren ihre Hoffnung, dass Gott, dessen Handlungsspielraum sie respektieren, sie, „wer weiß“, „vielleicht“ vom Tod verschonen wird. Aber „Jona kennt kein Vielleicht“ (Ilse Müllner). Gott aber will vor allem eins: Er will Jona gewinnen und wünscht sich nichts mehr, als dass sein Prophet dazulernt und vor allem ihn, den Allmächtigen mit dem großen Herzen, besser kennenlernt.

Jona sagt: „Gnade für Ninive?! Gott, das geht jetzt wirklich zu weit!“ – Gott: „Nein, Jona, du bist zu eng!“ Regeln, Normen und Traditionen verengen Jonas Sicht, verhindern Offenheit für Gottes aktuelles Handeln. Gott dagegen, der in Kapitel 3 eindrücklich die „herrliche Inkonsequenz der Liebe“ (Eduard Haller) demonstriert hat, braucht Bewegungsspielraum, um im Bedarfsfall variabel reagieren zu können. Gott will mit Jona herausarbeiten, woher dieses Denken kommt, das Jona einengt, Gottes Handlungsmöglichkeiten zu begrenzen droht – und andere Menschen in eine Schublade zwängt.

Gott diente Jona bislang als Legitimation für dessen enge Grenzen – und jetzt sagt Gott: „Nein, da spiele ich nicht mit! Diese Enge passt mir nicht! Das passt vor allem nicht zu mir!“ Gott wünscht sich, dass Jona sich von ihm in seine Weite führen lässt. Dass er lernt, Gottes grenzenlose Gnade zu genießen und großzügig weiterzuschenken. Aber er hat seine liebe Mühe, Jona sein Denken näherzubringen.

Voranbringen oder verurteilen?

Jona braucht eine klare Abgrenzung zwischen seinem Volk und der ganzen restlichen gottlosen Welt. Er will eine klare Linie zwischen Gut und Böse, er besteht darauf, dass Böses böse genannt und konsequent geahndet wird. Er wirft Gott vor, dass er genau diese Grenzen aufweicht, wenn er Ninive nicht wie angekündigt vernichtet!

Aus Gottes Sicht sind die Niniviten Menschen, denen die Orientierung fehlt (Kap. 4,11). Sie stolpern durchs Leben. Sie finden sich allein nicht zurecht, verfehlen ihr Lebensziel. Gott und Jona sind sich vermutlich in der Diagnose sogar einig. Aber sie ziehen ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen: Für Jona ist die Unwissenheit der Niniviten Grund genug, sie zu verachten, sich überlegen zu fühlen, von oben auf sie herabzuschauen. Für Gott ist die Unwissenheit der Niniviten Grund genug, Mitleid mit ihnen zu haben und einzugreifen.

Es ist alles eine Frage der Perspektive: Jona sieht üble Sünder, die bestraft werden müssen. Gottes sieht Hilfsbedürftige, denen jede Zukunftsperspektive fehlt, die ohne Hilfe von außen verloren sind. Jona fehlt erkennbar Empathie und Interesse an seinen Mitmenschen. Jona geht es ums Prinzip (dass Sünde zwingend bestraft werden muss), Gott geht es um die Menschen. Jona will keine konstruktive Lösung für Ninive, er will Vergeltung und klare Fronten. Er will sehen, dass von Ninive nur ein Aschehaufen übrigbleibt.

Jona fehlt die „Mitleidenschaft“ (Uwe Steffen), wenn Menschen, gerade Nichtjuden, am Leben vorbeileben – er würde sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Jona kann nicht nachempfinden, wie sehr Gott alle Menschen am Herzen liegen.

Kleiner Einschub aus dem Neuen Testament. Diesen Vorwurf macht Jesus ebenfalls den Pharisäern, dass sie das große Ganze aus dem Blick verloren haben: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glauben. Die Pharisäer haben völlig ausgeblendet, dass die Liebe zu Gott und zu anderen Menschen der Kern des Gesetzes sind (Matthäus 22, 34-40; Römer 13, 8-10). Auch heute gilt noch: Die Liebe zu Gott und die Liebe zu Menschen sind zwei Seiten einer Medaille. „Gott ist Liebe. Wer in der Liebe lebt, lebt in Gott und Gott lebt in ihm.“ (1. Johannes, 4,16). Das heißt: Wenn wir Gottes Liebe an andere weitergeben, also davon erzählen oder noch besser, sie praktisch und greifbar werden lassen, erfahrbar werden lassen für andere, dann bleiben wir selbst in Gottes Liebe. Sie pulsiert in uns, wir erleben sie unmittelbar in uns und durch uns wirksam. Und im Umkehrschluss? Teilen wir Gottes Liebe nicht (mehr) mit anderen, lösen wir uns aus Gottes Liebe, dann erleben wir sie auch nicht mehr in dem Ausmaß und in der Intensität, wie es ansonsten möglich wäre.

Konsequent gnädig

Zurück zu Jona. Gott wünscht sich, dass Jona Mitgefühl lernt. Und noch mehr: Er soll Verantwortung für Menschen übernehmen und seinen Beitrag dazu leisten, dass sie Gottes Gnade erleben.

Jonas Theologie ist unbeweglich, sie lebt von Stabilität. Jona braucht klare Verhältnisse, ein klares Weltbild. Er braucht konsequente Eindeutigkeit, ein Glaubenssystem mit unverrückbaren Koordinaten. Eine Welt, in dem alles ohne Spielraum seine festgelegte Ordnung hat, in dem alles unmissverständlich und unabänderlich fixiert ist. Jona hat ein Problem damit, dass der gnädige und barmherzige Gott immer wieder für Überraschungen gut ist. Mit einem unberechenbaren Gott kann Jona nicht gut umgehen. Man kann sich das so schön ausmalen, wie es im Gespräch zwischen Gott und Jona hin- und herging:

Jona: „Gott, du bist nicht konsequent! Wer A sagt, muss auch B sagen. Du hast wahrgenommen, wie böse Ninive war, du hast ihre Vernichtung angekündigt, jetzt musst du deine Drohung auch wahr machen, sonst nimmt dich keiner mehr ernst! Klare Kante! Ich würde das gnadenlos durchziehen!“

Gott: „Jona, genau: Die Gnade ist es, die uns beide gerade unterscheidet!“

Jona: „Denk an den Abschreckungseffekt! Man muss doch klar zwischen Gut und Böse trennen! Gott, du musst doch bei Ninive hart sein, kraftvoll durchgreifend. Warum bist du hier so weich?“ Gott: „Jona, was wäre, wenn ich bei dir hart und kompromisslos durchgreifen würde?! Nur so ‘ne Frage …“

Wenn vermeintlich klare, eindeutige Regeln in den Fokus rücken, rückt Gottes dynamisches Handeln nach hinten. Gott hat ein großes Herz, ein weites Herz. Er möchte Menschen voranbringen. Um das zu erreichen, interagiert er mit uns. Gott kommt gerne in Kontakt mit Menschen, schaut, wie sie auf seine Kontaktaufnahme reagieren, dann reagiert er wiederum darauf – das ist ein dynamisches Beziehungsgeschehen, kein Vorgehen nach Schema F, wie Jona es gerne hätte! Typisch für Gott ist eben seine kreative, immer etwas unberechenbare Gnade, die sich jeder Festlegung entzieht, weil Gott über allen Regeln steht. Gott kann umdenken, sich umentscheiden, flexibel reagieren – wenn es dem Leben dient.

Zum Schluss ein kleiner Sprung ins Heute: Nach einer Predigt, in der ich für die Weite und Freiheit des Glaubens warb, erhielt ich eine erboste Rückmeldung: „Wenn ich mir alle Glaubensregeln irgendwie zurechtbiegen kann, wie ich will, dann zerbröckelt doch mein ganzer Glaube! Dann bleibt doch nichts mehr übrig!“

Und ich dachte: Wenn ohne Regeln nichts übrig bleibt von deinem Glauben, dann besteht er offenkundig tatsächlich nur aus Regeln! Wie schade! Glaube ist doch im Wesentlichen etwas ganz anderes, nämlich ein lebendiges Beziehungsgeschehen zwischen Gott und uns!

Je mehr Christen in Verhaltensregeln Sicherheit suchen, desto weniger suchen sie Sicherheit in Jesu Nähe. (Fatal wirkt sich das besonders aus, wenn man selbst daran scheitert, diesen Verhaltensregeln zu entsprechen … – was bleibt einem dann noch?) Wenn wir versuchen, den Glauben in Paragrafen zu gießen, behindern wir Gottes Dynamik, seine Lebendigkeit, die er für uns Menschen einsetzt. Und Gott – das zeigt die Jona-Geschichte – lässt sich nicht gerne einschränken in seiner Lebendigkeit, Kreativität und Liebe.

Gesunder Glaube bewegt sich zwischen den Extrempolen des uferlosen anything goes und des engen „So und nicht anders!“. Gesunder Glaube setzt nicht auf Beliebigkeit, aber auch nicht auf Gesetzlichkeit, sondern auf christuszentrierte Lebensorientierung. Bin ich bereit, dazuzulernen, mein Jona-Denken und vielleicht auch bisherige Überzeugungen zu hinterfragen? Lasse ich mich in Gottes Weite locken? Möchte ich an Jesu Art orientiert dazu beitragen, dass problematische Menschen vorankommen in ihrem Leben? Ich selbst lebe von Gottes Gnade – macht diese Erfahrung mich gnädiger?

Ulrich Müller
war 2008-2020 Ältester der EFG Gütersloh. Er schreibt Bibelkommentare für Menschen, die eigentlich keine lesen. Sein 2022 erschienenes Buch „Herzerweiterung für den Jona in mir“ motiviert, den Glauben mit weitem Herzen und breitem Horizont zu leben (www.ulrich-mueller.com). Er ist auch der Ideengeber für das AUFATMEN-Sonderheft „50 Lessons Learned“.

DIE JONA-GESCHICHTE IN KURZFORM

[1] Als der Prophet Jona vor Gottes Auftrag über das Meer fliehen wollte, ließ der HERR einen schweren Sturm aufkommen, sodass Jona sich gezwungen sah, sich von Bord werfen zu lassen, um die restliche Besatzung zu retten. [2] Damit er nicht ertrank, schickte Gott einen großen Fisch, der Jona verschluckte und ihn nach drei Tagen und Nächten wieder an Land ausspie. [3] Nun verkündete Jona doch noch seinen Feinden, den Assyrern, dass ihre Stadt Ninive nach vierzig Tagen auf den Kopf gestellt werden sollte, woraufhin der König und seine Untertanen all ihr Unrecht bereuten und deshalb von Gott verschont wurden. [4] Darüber wurde Jona sehr zornig und machte Gott Vorwürfe, doch der HERR machte ihm deutlich, wie wertvoll das Leben all dieser Menschen in seinen Augen ist.
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