Was uns wirklich ausmacht – Editorial 01/2023
„Die Zeit der Prüfung, die wir jetzt durchgehen, zeigt übrigens, wie jemand wirklich ist. Wer ein verantwortungsloser Egoist, Faulenzer oder Feigling ist, oder wer an die anderen denkt und ihnen im Rahmen seiner Möglichkeiten hilft. Vielleicht auch nur dadurch, dass er um sich herum Ruhe, Empathie und eine unbeugsame Kraft der Hoffnung verbreitet.“
Vor genau drei Jahren steht der katholische Priester Tomáš Halík in der Salvatorkirche in Prag. Halík, Professor und gefeierter Autor, predigt diese Sätze im coronabingt leeren Gotteshaus. „Vor drei Jahren“, im ersten Coronawinter, kein Krieg in der Ukraine – das scheint eine Ewigkeit her zu sein.
„Diese Zeit der Krise“, sagt Halík, „macht sichtbar und erkennbar, wie du wirklich bist!“ Die Worte des Priesters treffen mich und lösen Fragen aus. Ich höre in mich hinein. Wie erleben meine Mitmenschen mich in dieser Zeit? Und wie verändere ich mich in dem anhaltenden Krisenmix? Was strahle ich aus? Verbreite ich um mich herum Ruhe oder Unruhe? Werde ich mitfühlender mit anderen, die in existentielle Nöte kommen? Oder denke ich jetzt erst mal an mich selbst? „Ruhe, Empathie und eine unbeugsame Kraft der Hoffnung“ – strahle ich das aus? Oder erleben mich andere eher als dünnhäutig und genervt von den ständigen Veränderungen? In meine aufkeimende Sehnsucht nach diesem Lebensgefühl mischt sich ein zweiter fragender Gedanke: Wie wäre es, wenn nicht nur eine oder einer alleine, sondern alle, die Jesus nachfolgen, diese „unbeugsame Kraft der Hoffnung“ einbringen würden. Hinein in den Angst einflößenden Krisen-Mix, der uns umgibt! Wie wäre es, wenn Gemeinden ihre Fenster und Türen aufmachten. Wenn Christinnen und Christen ihre Häuser und Gärten für die Nachbarn öffneten und „ganz normale“ Männer und Frauen andere „ganz normale“ Männer und Frauen ein kleines Stück begleiten würden: zur Familienberatungsstelle, zum Ausländeramt, zur Schuldnerberatung, zum Seelsorger oder zur Therapeutin. Und vielleicht auch nur den Hund ausführen oder eine Stunde die Kinder nehmen …
Ich bekomme Gänsehaut bei der Vorstellung, wir Christen würden in der Krise eine Zeit lang auf interne Querelen und theologische Streitigkeiten verzichten — und stattdessen im Namen Jesu gemeinsam unser Dorf, unseren Stadtteil unterstützen. Oder die Menschen in anderen Teilen der Welt, mit denen wir vielleicht schon lange verbunden sind. Um wirksam zu sein füreinander und für andere – dafür würden wir unsere eigenen Probleme und Problemchen für eine Zeit ins Hinterzimmer stellen (und sie vielleicht dort vergessen …).
Tatsächlich sehe ich an manchen Orten, dass das geschieht: Gemeinden, die ihre Programme ändern, praktische Alltags-Hilfe anbieten oder in warme Räume einladen. Manche tun das schon lange, andere fangen es jetzt an. Klar, wir alle haben noch Luft nach oben und, genau so klar, nicht alle machen sich sofort mit auf den Weg.
Es gibt den Satz: „Krisen sind Chancen!“ Ich mag ihn dann nicht, wenn dadurch versucht wird, bedrängende Situationen schönzureden. Aber er könnte in diesem Zusammenhang auch wahre Anteile haben: Ja, die Krise ist auch eine Bewährungsprobe. Es ist die Gelegenheit für Christinnen und Christen zu zeigen, wie sie wirklich ticken. Denn viele „christliche Tugenden“, über die wir nachgedacht, gesprochen, gelesen oder gepredigt haben, dürfen jetzt auf die Straße, hinein ins echte Leben. Jetzt können diese Markenzeichen dazu beitragen, dass sichtbar wird, was uns ausmacht. Was das konkret sein könnte? Ein paar Beispiele, sicher fallen euch andere ein.
• Wertschätzend reden: Ich will durch meine Worte aufrichten statt verurteilen. In diesen Zeiten besonders die guten Dinge suchen, benennen und feiern.
• Verzichten: Ich will nicht ständig damit hadern, dass sich manches für mich wirtschaftlich unvorteilhaft entwickelt. Das ist nicht einfach in einer Umgebung, die anders tickt.
• Teilen: Ich will im Rahmen meiner Möglichkeiten abgeben an die, die in existentielle Krisen geraten. Mich auf das Wesentliche konzentrieren und großzügig leben.
• Dankbar leben: Ich will dankbar werden und bleiben und auf die Gottesgeschenke schauen, die ich in meinem Leben sehe.
• Lasten tragen: Ja, auch das. Einladende und offene Arme zeigen und ausstrecken. Gerade hin zu denen, die in diesen Zeiten besonders gebeutelt sind. Auch lange Wege mitgehen.
• Demütig leben: mutig und zuvorkommend. Fröhlich und konzentriert. Mich selbst wichtig nehmen, aber auch nicht zu wichtig.
Wie schön wäre es, wenn davon jetzt etwas aufleuchten würde. Wenn Christinnen und Christen mit diesen Eigenschaften in Verbindung gebracht würden.
Ich bin gespannt auf eure Kommentare und Ergänzungen. Viel Freude mit dieser Ausgabe und herzliche Einladung zum Aufatmen im kommenden Frühling …
Euer
Martin Gundlach
Redaktionsleitung AUFATMEN
P.S.: Seine Predigt an diesem Fastensonntag im März hat Tomáš Halík mit folgendem Bibelvers betitelt: „Wenn jemand den Geist Christi nicht hat, so gehört er ihm nicht.“ (Römer 8,9) Umgekehrt können wir auch sagen: „Nur der Geist Christi kann uns dazu befähigen.“ (Dazu das Dossier der letzten Ausgabe!)