Paulus & Co. von Jesus her auslegen

Paulus und Co. von Jesus her auslegen

Überlegungen zum Bibelverständnis innerhalb des Neuen Testaments

In unserer Serie „Türöffner für Gottes Wort – Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen“ erklärt Dr. Ulrich Wendel in Folge 4 (AUFATMEN 1-24), was es bedeutet, die Bibel von Jesus her zu verstehen. Eine Frage, die es nicht in den Artikel geschafft hat, beantwortet er im Folgenden: Was hätte Jesus zu Paulus gesagt? 

Um die Bibel sachgemäß und treffend zu verstehen, hat sich in der Geschichte der Christenheit ein Grundsatz besonders bewährt: sie von Christus her auszulegen. In der Landschaft der biblischen Texte (die manchmal etwas wild zerklüftet ist) bildet Christus sozusagen den Bergkamm: einen Höhenzug, der sich von vorn bis hinten durchzieht. Mal ist er sehr schmal, mal ist er breit und die umliegenden Gegenden sind fast auf einer Höhe mit ihm. Vom Bergkamm aus hat man jedenfalls dem besten Überblick und kann alles zuordnen. (Siehe dazu: Ulrich Wendel, Der biblische Bergkamm. Die Heilige Schaft von Jesus her lesen, in: AUFATMEN 1/2024, 48-51.).

Das ist vor allem ergiebig im Rückblick vom Christus-Gipfel aus – also im Blick auf das Alte Testament. Wenn wir uns die Bibel aber als Buch-Abfolge vorstellen: Was ist mit dem Blick voraus? Was ist mit den neutestamentlichen Briefen, was ist mit Paulus, der nach Jesus kam? Auch seine Worte müssen sich an Jesus messen lassen, wenn der eingangs genannte Grundsatz gilt. Wie aber würden wir dabei vorgehen? Und hat Paulus eine abgestufte Autorität, die der Autorität von Jesus untergeordnet ist?

Blicken wir zunächst auf zwei Modelle, die man leicht falsch anwendet.

Zwei Missverständnisse

Paulus – uns näher?

Einer bestimmten Auslegungstradition zufolge sind die Worte von Paulus für uns, die neutestamentliche Gemeinde, maßgeblicher als die Worte von Jesus. Denn Jesus habe zu den Juden gesprochen, Paulus aber zur Gemeinde – und diese beiden Gruppen gehören unterschiedlichen Epochen an. Es ist aber problematisch, Jesus so zu „zähmen“ und für wenig bedeutend zu erklären. Mehr dazu im Anhang dieses Artikels.

„Was Christum treibet“

Eine andere Verstehenstradition bezieht sich auf Martin Luther. Demnach soll als apostolisch (und verbindlich) gelten, „was Christum treibet“, also was Christus zur Geltung bringt. Und was diesem Kriterium nicht entspricht, sei demnach eben nicht verbindlich.

Doch so hat Luther seine Formulierung nicht gemeint. Er setzte sich mit dem Jakobusbrief auseinander und hatte Zweifel, ob das ein apostolischer Brief sei. Mit dem Kriterium, Christus zu „treiben“ und zu predigen, sortiert Luther Autoren und neutestamentliche Schriften (Bücher) – nicht aber die einzelnen Aussagen eines Autors. Gilt jemand erst einmal als Apostel, dann ist er das auch. Bei Paulus ist das zweifellos der Fall. Wir können uns nicht auf Luther berufen, wenn wie die Aussagen von Paulus einzeln danach beurteilen wollen, ob sie Christus entsprechen oder nicht. (2 Vgl. Clemens Hägele: Mit Christus gegen die Apostel? pfarrerverband.de – Archiv und Albrecht-Bengel-Haus – Bengeltheke (bengelhaus.de); und Guido Baltes:Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 11: „Was Christum treibet“: Ein erfundenes Luther-Zitat? – Bibelentdeckungen.de.)

Wie aber verstehen wir das Verhältnis von Paulus und Jesus dann? Wie können wir Paulus im Licht von Jesus auslegen?

Was Paulus von Jesus bekam

Grundsätzlich sollten wir von einer theologischen Übereinstimmung zwischen Paulus und Jesus ausgehen. Wo wir Unterschiede wahrnehmen, sollten wir uns fragen, ob das nicht zunächst an einer leicht verzerrten Wahrnehmung von Paulus liegen könnte. So ist Paulus z. B. bei genauem Lesen nicht so „frauenfeindlich“, wie man es manchmal hört (Vgl. Ulrich Wendel: Führende Frauen in der Bibel. Priska, Junia & Co., Gießen 2.Aufl. 2007) – und damit besteht dann auch keine große Differenz mehr zu Jesus.

Wie aber können wir diese theologische Übereinstimmung begründen? Was stellt die Worte von Paulus und die von Jesus theologisch auf eine Ebene?

Paulus bekam Inhalte von und über Jesus und eine entsprechende Autorisierung auf verschiedenen Ebenen:

1. Das Zeugnis als Apostel

Paulus hatte eine direkte Jesusbegegnung. Das machte ihm zum Apostel. Obwohl es der nachösterliche, „erhöhte“ Christus war, der Paulus begegnete, und nicht der irdische Jesus, der drei Jahre mit seinen zwölf Jüngern verbracht hatte, beansprucht Paulus, den zwölf Aposteln ebenbürtig zu sein. Er hat das Evangelium erlebt, nämlich die Begnadigung des Sünders und seine Berufung zum Dienst, unabhängig von seinen Werken, allein durch Gnade, wirksam gemacht allein durch Glauben.

Aus dieser Apostelberufung ergibt sich eine besondere Autorität von Paulus (Gal 1,1-12). Sie ist nicht an die Person von Paulus an sich, sondern an den Inhalt des Evangeliums gebunden (Gal 1,7-9), doch Paulus ist davon überzeugt, dieses Evangelium richtig zu vertreten und zur Sprache zu bringen (Gal 1,12).

2. Überlieferung des Evangeliums

Diese Christusbegegnung allein hat ja noch nicht unbedingt ausdifferenzierte Inhalte über das Evangelium mit sich gebracht. Aber solche Inhalte hat Paulus – abgesehen von seinem Erlebnis vor Damaskus – ebenfalls bekommen. In 1. Korinther 15,3-7 benennt er Überlieferung, die man ihm mitgeteilt hat. Er hatte ja Kontakt nicht nur zu einigen der zwölf Apostel, sondern auch zu anderen Jüngern der Anfangszeit (vgl. Apg 21,8.16; Röm 16,7). Von daher hatte er genug Stoff, um in seinen Gemeinden den Hörern „Christus vor Augen zu malen“ (Gal 3,1). („Paulus berichtet vom Leben und Wirken Jesu von Nazareth und verkündigt die Bedeutung seines Todes und seiner Auferstehung (…). Der Gebrauch des Jesus-Namens in 1Thess 1,10, ohne erläuternden Zusatz, ist en Hinweis darauf, dass Paulus von der Person des Menschen Jesus gesprochen hat.“ (Eckhard J. Schabel, Urchristliche Mission, 2. Aufl., Holzgerlingen 2018, S.1328).)

Wir müssen beachten: Wir haben ja nicht einerseits die direkten Worte von Jesus und andererseits das, was Paulus als Apostel sagt (in Reaktion auf das Evangelium). Vielmehr haben wir die Worte von Jesus und die Berichte über sein Leben auch „nur“ aus dem Mund der Apostel bzw. aus ihrer Feder. (Das betrifft das Matthäus- und Johannesevangelium; Markus (als Übersetzer des Apostels Petrus) und Lukas waren ja nicht selbst Apostel, sondern stehen noch einen Kreis weiter außen: Jesus → Apostel → Buchautoren Markus/Lukas.) Damit ist gesagt: Wenn wir das Evangelium von Jesus nach dem Zeugnis der Apostel Petrus, Matthäus und Johannes hören und das Evangelium nach dem Zeugnis des Apostels Paulus – dann haben wir durch beide Arten des Zeugnisses ungefähr denselben Abstand zu Jesus. Paulus ist nicht weiter weg von ihm.

3. Direkte Offenbarungen durch Christus

Paulus muss direkte geistliche Offenbarungen von Christus empfangen haben. Christus selbst hatte ihm das zugesagt: „Denn hierzu bin ich dir erschienen, dich zu einem Diener und Zeugen dessen zu verordnen, was du gesehen hast, wie auch dessen, worin ich dir erscheinen werde“ (Apg 26,16). „Worin ich dir erscheinen werde“ – Jesus hatte also explizit vor, Paulus auch nach „Damaskus“ zu erscheinen und darin etwas zu vermitteln, das Paulus danach bezeugen konnte. Vielleicht gehört die in Galater 1,12 erwähnte Offenbarung auch hierher.

Damit hat Paulus eine „Nachschulung“ bekommen, wie sie auch die elf Apostel nach Ostern bekamen (Apg 1,2). Auch hier ist er den Augenzeugen des vorösterlichen Jesus also gleichgestellt.

4. Prophetische Worte

Paulus war nicht nur Apostel (das war etwas sehr Besonderes), sondern auch Prophet in der Reihe der urchristlichen Propheten (das war also nicht ganz so außergewöhnlich). An vielen Stellen können wir diese prophetischen Offenbarungen heute noch lesen. Einerseits waren es situationsbezogene Worte für ihn (z. B. Apg 18, 9-10; 27,23-26). Zum anderen aber bekam Paulus auch allgemein gültige, bis heute noch verbindliche Worte (z. B. 1Kor 15,51-52 oder 53( Das verwendete Wort „Geheimnis“ ist ein Fachausdruck im Rahmen prophetischer Rede.); 1Thess 4,15-17).

Was sagt das über die Autorität von Paulus in dieser Hinsicht? Propheten in der Gemeinde von Jesus gibt es viele und soll es zu allen Zeiten geben. Ihre Worte sind natürlich den Worten von Jesus untergeordnet. Sie stehen mit Christus nicht auf Augenhöhe. Gleiches müsste also zunächst für Paulus gelten, wenn er prophetische Worte weitergibt. Auf der anderen Seite sind diese Worte in einen apostolischen Brief aufgenommen worden, und apostolisch bedeutet ja: mit Jesus-Autorität (siehe Punkt 1). Deshalb sollten wir zumindest denjenigen prophetischen Botschaften des Apostels, die sich nicht auf eine einzelne Situation beziehen, einen Erkenntnis-Vorsprung zumessen.

5. Schriftworte und Jesus-Überlieferung

Zu dem, was Paulus von Jesus bekommen hat, zählen schließlich auch neutestamentliche Schriftworte. Natürlich war das Neue Testament damals noch nicht geschrieben, vermutlich nicht einmal einzelne Bücher. Dennoch zitiert Paulus Jesusworte, die wir dann in unserem Neuen Testament wiederfinden. Sie gehören offenbar zu mündlicher Überlieferung, die sowohl Paulus als auch den vier Evangelisten zugänglich wurde.

Solche Jesusworte spricht Paulus in 1. Korinther 7,10-11 an, ferner in 1. Korinther 9,14; 11,23-25. Für diejenigen, die den 1. Timotheusbrief nicht einem späteren Autor zuordnen, sondern ihn für einen Paulusbrief halten, ist auch die Stelle 1. Timotheus 5,18 wichtig. Hier wird ein Wort aus dem Alten Testament zitiert sowie ein Jesuswort, das wir auch in Lukas 10,7 finden – und beides wird als Zitat aus der Schrift bezeichnet!

Paulus ist also auch insofern in Einklang mit Jesus, als er fest geprägte und überlieferte Jesusworte heranzieht. In 1. Korinther 7 unterscheidet er diese Weisung des Herrn ausdrücklich von seiner eigenen Ansicht. Diese eigene Meinung ist nicht so verbindlich wie die Weisung von Jesus – immerhin aber auch unter Einfluss des Heiligen Geistes entstanden (1Kor 7,40).

Was sagt uns dies für die übrigen Teile der Paulusbriefe? Lesen wir überall seine eigene (wohlbegründete, geistgeprägte) Meinung – und nur da, wo er es ausdrücklich sagt, liegt tatsächlich ein Wort des Herrn vor? Oder ist es umgekehrt: Nur dort, wo Paulus es ausdrücklich kenntlich macht, sagt er seine eigene Meinung (so z.B. in 2Kor 8,10), und überall sonst spricht er autoritativ als Apostel von Jesus?

Der Charakter der Briefe und das apostolische Selbstverständnis von Paulus scheint für die zweite Möglichkeit zu sprechen. So kann er – ganz nebenbei – auf seine „Wege in Christus“ verweisen, wie er sie überall in jeder Gemeinde lehrt (1Kor 4,17). An diese Lehre soll Timotheus die Gemeinden erinnern. Paulus geht also davon aus, dass selbst das Zitieren, Wiederholen oder Unterstreichen seiner Lehre einen verbindlichen Charakter hat.

Rückschluss auf die Paulus-Auslegung

Wie also können wir die Paulusbriefe im Licht von Jesus verstehen und beurteilen?

Im Blick auf das Alte Testament lassen sich vier Möglichkeiten benennen, wie Jesus zu den einzelnen Aussagen steht:
Jesus hat bzw. hätte
1. den alttestamentlichen Aussagen zugestimmt oder
2. etwas ergänzt
3. oder widersprechend gesagt: „Ich aber sage euch: …“
4. oder dasselbe Ziel verfolgt, aber aus einer anderen Voraussetzung, Quelle, Motivation und Kraft.

Für Paulus gelten diese vier Möglichkeiten vielleicht in folgender Weise:

1. Jesus würde Paulus in vielem zustimmen – z. B. in der Aussage, dass die Liebe das Gesetz erfüllt (Gal 5,14 u.ö.), dass der Glaube in der Liebe tätig sein muss (Gal 5,6) und vielem anderem.

2. Was Jesus gern bei Paulus ergänzt hätte, könne wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Wir könnten es nur aus einem Vergleich der Evangelien mit den Paulusbriefen erschließen. Zum Beispiel hätte Jesus vielleicht die Liebe zu Gott ergänzt, wenn Paulus sagt, die Nächstenliebe sie die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,8-10; vgl. Mt 22,35-40). Solch ein Vergleich ist ein ganz normaler Vorgang bei der Auslegung des Neuen Testaments. Wir vergleichen ja auch den Jakobusbrief mit der Bergpredigt, die Petrus- mit den Paulusbriefen, das Johannes- mit dem Markusevangelium usw. Und uns ist auch der Gedanke vertraut, dass die neutestamentlichen Briefe manches ergänzen, was Jesus nur angedeutet oder gar nicht angesprochen hat. So hat er sich z. B. nicht zur Frage der Sklaverei geäußert, Paulus aber durchaus.

3. Hätte Jesus Paulus an manchen Stellen widersprochen? Nicht wenige Bibelleser haben diesen Eindruck. Es wäre aber die Frage, ob man dabei jeweils das Bild von Jesus und Paulus scharf eingestellt hat oder ob man das Klischeebild eines menschenfreundlichen Jesus dem Klischeebild eines schroffen Paulus (Siehe zu diesem Thema: Ulrich Wendel, Paulus – ein harter Hund? Über schroffe, zarte und faire Seiten des Apostels. In: Faszination Bibel 3/2011, 36ff.) gegenüberstellt. Über viele fragliche Stellen kann man in der gemeinsamen Schrifterkundung durchaus diskutieren.

4. Große Einigkeit besteht zwischen Jesus und Paulus, dass man den Willen Gottes nicht einfach durch äußere Taten erfüllen kann. Heiligung entsteht nicht von außen nach innen, nicht von Handlungen, die sich verändernd auf das Herz auswirken, sondern es ist umgekehrt: Das Herz muss verändert und erneuert werden, und nur so entsteht neues Handeln. Damit unterscheiden sich beide, Jesus und Paulus, vom Ansatz der Pharisäer. Und beide greifen das auf, was schon das Alte Testament vorbereitet hat, wenn es vom Wesen des neuen Bundes spricht (Jer 31,33; 32,40; Hes 36,26-27; vgl. auch Hes 14,5).

Fazit

Christus ist die Mitte der Schrift, und wir sollten die Schrift so auslegen, dass sich alles um ihn herum anordnet. Das gilt auch für das, was Paulus sagt. Dabei werden wir aber oft feststellen, dass Paulus in keiner Spannung zu Christus steht.

Den Weg, den wir hier für Paulus abgeschritten sind, müssten wir nun in ähnlicher Weise auch für den Hebräer-, Judas- und Jakobusbrief, die Petrus- und Johannesbriefe abschreiten. Das Ergebnis wird sich vermutlich nicht grundlegend von dem unterscheiden, das sich für Paulus gezeigt hat.

Christus ist der Höhenzug, der Bergkamm, der sich durch die Landschaft der Bibel zieht. Verfolgen wir diesen Bergkamm bis in die Gegend der Paulusbriefe, dann sehen wir, dass das Land um den Bergkamm nicht steil abfällt, sondern auf beträchtlichen Flächen auf einer Höhe mit ihm ist.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.

 

 

Anhang

Ein fragwürdiger Glaubenssatz: „Die Kirche muss sich nach Paulus richten, nicht nach Jesus!“

(Erschienen in Faszination Bibel 1/2017, S. 70-71. Hier leicht bearbeitet.)

Als Jesus auf der Erde lebte, gab es die Gemeinde noch nicht. Er sprach nur ganz selten von ihr. Zur Zeit der Apostel entstanden dann die ersten Gemeinden. Bald nahmen sie feste Formen an und eine Struktur entstand. Die Briefe des Paulus geben uns Einblick in viele organisatorische Fragen der jungen Kirche.

Wenn Christen sich heute Gedanken machen, wie Kirche und Gemeinde aussehen soll: Wäre es da nicht am praktischsten, sich nach den Vorgaben von Paulus zu richten? Wäre das nicht viel ergiebiger, als sich die wenigen Sätze von Jesus zum Thema zusammenzusuchen?

Für bestimmte Strömungen der evangelischen Christenheit ist genau dies das richtige Verfahren – aber nicht weil es praktischer ist, sondern weil es ihrer Auffassung nach so sein muss. Sie gehen von der Voraussetzung aus: Die zwölf Jünger waren Juden, und was Jesus ihnen sagte, gilt eben dem Volk Gottes, den Juden, nicht aber der christlichen Gemeinde. Die Gemeinde gehört vielmehr zu einem ganz neuen Abschnitt der Geschichte. Und dafür seien innerhalb der Bibel die Apostelbriefe maßgeblich. So ungefähr lautet der Auslegungsgrundsatz.

Die Jesus-Epoche und die Paulus-Epoche

Klassisch findet man diese Auffassung zum Beispiel in der Scofield-Bibel. Hier wird gelehrt: „Die Evangelien entwickelten nicht die Lehre der Gemeinde. … Die Evangelien zeigen uns eine Schar von jüdischen Jüngern, die auf Erden mit einem Messias in der Erniedrigung verbunden waren. Die Briefe zeigen uns eine Gemeinde, die der Leib des Christus ist, der aus den Wiedergeborenen besteht.“ Diese Unterscheidung zwischen Evangelien und Briefen des Neuen Testaments ist so grundlegend und wird bei manchen konservativen Christen für so wichtig gehalten, dass man tatsächlich von einer Art „Glaubenssatz“ sprechen kann.

Die Konsequenzen dieses Satzes liegen auf der Hand. Die Bergpredigt und die Gleichnisse von Jesus sind zwar wichtig, aber auf die konkrete Ausgestaltung der Gemeinde und ihrer Strukturen sollen sie nicht einwirken. Zwar kann man mancherlei aus der Verkündigung von Jesus für eine „moralische Anwendung auf das Volk Gottes in jeder heilsgeschichtlichen Stellung“ heranziehen (so O-Ton der Scofield-Bibel), aber nicht alles und nicht grundsätzlich.

Erstaunlich, welche Denkwege in der Geschichte der Bibelauslegung beschritten wurden! Wieder stoßen wir auf einen Gegensatz, der zwischen Jesus und Paulus aufgerissen wird. Es gibt die Überzeugung, dass Jesus das ursprüngliche und unverfälschte Evangelium gehabt und Paulus eine formalistische Dogmatik daraus gemacht habe. Paulus hält man sich mit dieser Begründung ein wenig auf Abstand. In der Auffassung, wie die Scofield-Bibel sie hat, ist es nun umgekehrt, wenn auch mit ganz anderer Begründung. Jesus ist selbstverständlich die Grundlage der Erlösung, aber für die konkreten Fragen des Gemeindelebens hält man ihn ein wenig auf Abstand.

Die Klammer um Jesus und die Kirche

Entscheidend für Scofield und andere Vertreter der hier beschriebenen Auffassung ist die Lehre von den verschiedenen Heilszeiten. Mit Pfingsten, so lehrt man, hat eine neue Zeit begonnen, die der Gemeinde, und die hat ihre eigenen Maßstäbe. Doch liest man das Neue Testament unbefangen und ohne ein Lehrsystem im Hinterkopf, so würde man kaum auf die Idee kommen, zwischen Jesus und Paulus so einen Schnitt zu machen. Die zwölf Jünger erscheinen vielmehr wie die Keimzelle der späteren Gemeinde. Was Jesus ihnen über Herrschaft und Dienen sagt (Matthäus 20,24-28; 23,8-12), muss doch wohl auch in der Kirche – in der Gemeinde von Jesus – gelten. Die Verheißungen, die Jesus in den Seligpreisungen gibt (Armut wird gestillt, Hungernde werden gesättigt, Ausgestoßene werden anerkannt; Lukas 6,20-23) erfüllen sich in der Urgemeinde von Jerusalem. Wenn Jesus seine zwölf Jünger zu den Menschen aussendet (und später tat er das mit 72 weiteren Jüngern), geschieht genau das, was später auch durch die Kirche passieren soll: Die Botschaft breitet sich aus und wird durch die Kraft des Geistes bestätigt. Und Paulus seinerseits zieht Worte von Jesus heran, um die Ordnungen in der Gemeinde zu begründen (z. B. 1. Timotheus 5,18). Schließlich sollte noch zu denken geben, dass es erhebliche Parallelen zwischen dem Jakobusbrief und der Bergpredigt gibt. (Eine Übersicht findet sich in Rienecker/Maier/Schick/Wendel: Lexikon zu Bibel, 5. Aufl. 2021, 581.) Nein, es kann nicht angehen, Jesus aus der Gestaltung der Kirche so grundlegend herauszuhalten. Jesus und die Kirche befinden sich innerhalb einer gemeinsamen Klammer.

Eine Variante dieses Gegensatzes zwischen Evangelien und Briefen kommt übrigens aus einer ganz anderen Ecke, nämlich aus der historisch-kritischen Theologie der 1960er-Jahre. Dort erkannte man an, dass – zumindest nach der Berichterstattung der Apostelgeschichte – die Urgemeinde in Jerusalem das verwirklichte, was Jesus gelehrt hat. Bloß – das war damals die „Goldene Anfangszeit“ der Kirche. Doch nachdem die ersten Apostel (Petrus & Co.) gestorben waren, sei eben auch diese Anfangsepoche zu Ende gegangen. Und allen sei das bewusst gewesen, auch Paulus. Selbst Lukas, der von der Urgemeinde berichtete, habe gar nicht gewollt, dass seine Leser sie zum Vorbild nehmen, denn sie leben eben in einer anderen Zeit! Auch so kann man einen Strich zwischen Jesus und die spätere Zeit der Kirche ziehen.

Welche Lehre bewährt sich?

Ob die Auslegungsgrundsätze von Scofield den Test der Zeit bestehen und sich bewähren, wenn das Evangelium unter Druck gerät, muss sich vielleicht erst noch zeigen. Die gegenteilige Auffassung aber – dass die Kirche sich allem nach Jesus richten muss – hat diesen Test der Zeit bereits bestanden. In der Hitlerzeit waren die Versuche massiv, die Kirche und ihre einzelnen Gemeinden zu bedrängen und in den Staat einzugliedern. Dagegen wehrte sich die Bekennende Kirche, die sich (in aller Schwachheit) bis zuletzt nicht von den Nazis über den Tisch ziehen ließ. Grundlage für die Bekennende Kirche war die Barmer Theologische Erklärung, in deren dritter These es heißt, dass die Kirche „allein sein [Jesu] Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.“ Allein die Weisung von Jesus gilt also! Und das bezieht die Barmer Erklärung ausdrücklich auf „die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung“. Auch die Ordnung, auch die äußere Gestalt der Gemeinde richtet sich also nach Jesus. Die Evangelien sind ihr uneingeschränkter Maßstab.

Biblische Theologie auf einem Bierdeckel? – Türöffner-Serie Teil 3

Biblische Theologie auf einem Bierdeckel?

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 2: WARUM ES NICHT DEN EINEN EINFACHEN AUSLEGUNGSSCHLÜSSEL GIBT

Wenn wir die Bibel auf das zentrale Kondensat eindampfen – was kommt dann heraus? Was sind die wichtigsten Stellen? Und darf man diese Frage überhaupt so stellen? Fragen, die viele beschäftigen, die in der Bibel lesen. Antworten von Dr. Ulrich Wendel

Die Idee kam im Jahr 2003 auf: Eine Steuererklärung müsse so einfach sein, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Mir persönlich würde das die meistgehasste Arbeit des Jahres erleichtern.
Eine einfache Formel anwenden – und schon hat man das Ergebnis. Herrlich.

Und so etwas wäre ja nicht nur in Steuerfragen hilfreich. Nicht zuletzt im Glauben – oder genauer: im Bibelverständnis – ist es nötig, die Dinge herunterzubrechen und auf ein paar Grundlagen zurückzuführen. Wenn wir das nicht hinbekommen, verlieren wir uns im Dickicht der biblischen Einzelaussagen. Der Wunsch nach einer Art Formel, nach einem Generalschlüssel für Gottes Wort, ist schon alt. Was für die einen der Bierdeckel, war für einen anderen die Fläche von 30 Quadratzentimetern:

Zu den Rabbinen Schammai und Akiba war jemand gekommen, der zum Judentum übertreten wollte, wenn man ihn die ganze Thora (die Gebote Gottes) lehrt, während er auf einem Fuß steht. Schammai wies das Ansinnen ab – und Akiba gab ihm eine Faustregel: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere sind Kommentare. Geh und lern sie!“

Wie Jesus Gottes Wort herunterbricht

Christen werden hier schnell an die sogenannte Goldene Regel von Jesus erinnert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12). Damit ist klar: Auch Jesus gehört zu denen, die eine Zusammenfassung von Gottes Wort für richtig halten. Die Frage danach ist berechtigt und von Jesus bestätigt. Wenn Theologen späterer Zeiten nach der „Mitte der Schrift“ fragen, dann hat das eine gute Grundlage.

Eigentlich wäre also alles recht einfach: die Bibel zu verstehen, Gottes Willen zu erkennen, den Glauben zu gestalten. Die Frage ist bloß: Was ist denn die „Mitte der Schrift“? Was wäre die komprimierte Grundlage, die auf einen Bierdeckel oder wenigstens auf eine DIN-A5-Seite passt?

Jesus hat die „Goldene Regel“ formuliert – doch an anderer Stelle eine andere Zusammenfassung von Gesetz und Propheten gegeben: Gott zu lieben mit dem ganzen Wesen und aller Kraft, und den Nächsten lieben wie sich selbst – in diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Matthäus 22,37-39). Damit stehen wir vor einer Beobachtung, die unbequem sein könnte: Es gibt nicht die eine Zusammenfassung von Gottes Wort. Schon Jesus benutzte zwei verschiedene. Und wenn wir uns noch weiter in der Bibel umsehen, dann stoßen wir auf noch mehr Zusammenfassungen. Es könnte sein, dass unsere Suche nach einem Schlüssel für Gottes Wort doch zu einem längeren Weg wird und dass der Bierdeckel nicht ausreicht.

Grund-Sätze bei Paulus

Blicken wir von Jesus hinüber zu Paulus. Auch er arbeitet mit Zusammenfassungen des Glaubens – und auch er setzt den Schwerpunkt auf die Liebe. Basistexte bei ihm sind Römer 13,10; Galater 5,14 und 1. Thessalonicher 1,5. Die knappe Formel „Liebe“ ist bei Paulus zunächst sogar noch reduzierter als bei Jesus: Paulus betont nur die Nächstenliebe, hier nicht die Liebe zu Gott. Allerdings fängt er das durch eine andere Formulierung wieder auf: Was bei Christus zählt, ist einzig der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Galater 5,6). Die Liebe wird also ergänzt, oder genauer: ihr Antrieb wird genannt. Dieser besteht im Glauben. Dabei müssen wir „Glauben“ ganz konsequent im vollen neutestamentlichen Sinn verstehen, nämlich als Vertrauen. Glaube beschreibt eine Beziehung, in der wir uns ganz auf Christus verlassen. Paulus meint also nicht: Wir haben eine Überzeugung gewonnen oder eine Weltanschauung übernommen, und die mahnt uns dazu, Liebe zu üben. Das wäre ein Vorgang, der sich allein innerhalb des Menschen abspielt. Vielmehr meint Paulus, dass wir Gott glauben. Dass wir Jesus vertrauen. Dass wir uns Christus anvertrauen. Und dass diese Beziehung sich in der Nächstenliebe ausformt.

Die Liebe ist der Grundsatz – haben wir damit schon alle Zusammenfassungen des Glaubens bei Paulus erfasst? Nein, er bietet uns noch mehr an. Am Schluss des Galaterbriefs spricht er ausdrücklich von einer „Richtschnur“ (Galater 6,16). Wer mit theologischen Fachbegriffen etwas anfangen kann: Hier steht im Griechischen das Wort „Kanon“. Paulus verwendet also den Fachbegriff für das, was wir suchen: ein Generalschlüssel, ein allgemeiner Auslegungsmaßstab. Worin besteht nun diese Richtschnur? In einer „neuen Schöpfung“. Damit ist die Erneuerung und Umgestaltung der Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus angesprochen. Und diese Umgestaltung ist gerade nicht das Ergebnis eigener Bemühung. Nicht der Lebensstil, der sich aus einer Ethik ergibt, die an die Liebe orientiert ist. Die Erneuerung geschieht vielmehr durch das, was Christus in uns tut (2. Korinther 5,17).

Warum biblische Prinzipien nicht wirklich helfen

Das ist ein wichtiges Korrektiv für einen Liebes-Maßstab, in dem Nächstenliebe unsere Tat ist. „Neue Schöpfung“ ist die Tat (oder besser: das fortdauernde Tun) von Christus. Wenn wir Gottes Wort verstehen wollen und Gottes Willen erfassen möchten, dann nützen uns biblische Prinzipien nichts. Prinzipien wären handhabbare Grundsätze, praktikable Maximen – und die könnten wir
in die Hand nehmen und damit losmarschieren. Strenggenommen brauchen wir dann Gott gar nicht, um unser Leben nach Maximen auszurichten. Auch die „Goldene Regel“ von Jesus kann man durchaus als nichtgläubiger Mensch zu befolgen versuchen. Sogenannte biblische Prinzipien tragen immer die Gefahr in sich, dass wir uns mit ihnen verselbstständigen.

Von Paulus hören wir demgegenüber: Das Vertrauen (die Christusbeziehung) ist es, die sich in der Liebe auswirkt. Und: Neu geschaffen werden (passiv!) ist der Maßstab, ist der „Kanon“.

Spätestens jetzt ist klar, dass wir auch nicht mit dem bekannten Satz über die Liebe auskommen, um die Bibel richtig zu erfassen: „Liebe – und tu, was du willst“ (Augustinus). Man könnte von isolierten Bibelstellen her darauf kommen, dass Jesus und Paulus zustimmen würden. Doch so einfach ist es nicht. Jesus ergänzt die Liebe zu Gott, Paulus ergänzt die Vertrauensdimension und das Handeln von Christus an uns.

Orientierung an Christus – dem ganzen Christus

Überhaupt müssen wir Christus viel stärker in den Fokus rücken. Paulus hängt an sehr vielen Stellen in seinen Briefen die ganze Argumentation immer wieder an Jesus auf – auch dort, wo er nicht eigens betont, jetzt gebe er einen Grundsatz an. Bekannt ist der Hymnus aus Philipper 2: „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht …“ (Vers 5) – und dann beschreibt Paulus, wie Christus war. Dieses Argumentationsmuster ist für den Apostel zentral. Auch hier sehen wir also: Es geht nicht um Liebe an sich, sondern um eine besondere Liebe
– eine durch Jesus formatierte Liebe. Und wenn wir „Jesus“ sagen, müssen wir an all das denken, was Christus ausmacht: Liebe, ja, aber auch Klarheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Zorn, Vergebung, Androhung des Gerichts … unsere Vorstellung von Christus muss breit aufgestellt sein.

„Breit aufgestellt“: Das ist nun aber ja gerade das Gegenteil einer schlanken Formel, einer theologischen Bierdeckel-Lösung. Wie schon am Anfang vermutet: Die Suche nach einem längeren Weg.

Ein Blick ins Alte Testament

Es gibt also nicht die eine Zusammenfassung von Gottes Wort, sondern eine Mehrzahl. Bevor wir einen Schritt weitergehen und überlegen, was wir mit dieser Mehrzahl anfangen sollen, wie
wir sie anordnen sollen – schauen wir in einem Seitenblick kurz ins Alte Testament. Unter den verschiedenen Anläufen, besonders zentrale Gebote zu benennen, ist eine Formulierung des Propheten Micha prägnant:

„Er hat dir mitgeteilt, Mensch, was gut ist. Und was fordert der Herr [anderes] von dir, als Recht zu üben und Güte zu lieben und einsichtig zu gehen mit deinem Gott?“ (Micha 6,8). Hier haben wir drei Schwerpunkte. Die Liebe steht in der Mitte. Sie richtet sich nicht direkt auf Menschen, sondern auf eine Haltung: Güte. Die kommt aber natürlich direkt Menschen zugute. Daneben steht die Gerechtigkeit. Auch ein Grundwert und ein Maßstab, anhand dessen man viele Situationen entscheiden kann. Das dritte Glied aber überschreitet die Ebene von Werten und Haltungen. Wir sind gerufen, mit Gott zu gehen. Wieder ist also die Beziehung angesprochen. Die Beobachtung bei Paulus bestätigt sich bei Micha: Wir können nicht ohne enge Rückbindung an Gott mit Maximen und Maßstäben hantieren.

Ein Netz mit unterschiedlicher Dichte

Treten wir einen Schritt zurück und versuchen, das bisherige Bild in den Blick zu nehmen. Auf der Suche nach Verstehensschlüsseln haben wir nicht unendlich viele gefunden, aber auch nicht nur einen einzigen. Unsere Maßstäbe sind Liebe zu Gott und den Menschen, Gerechtigkeit, das Vorbild von Jesus. Außerdem, dass wir uns Gott anvertrauen, und das, was Christus in uns bewirkt. Ich stelle mir ein Netz vor, in dem die Maschen an unterschiedlichen Stellen dichter geknüpft sind und wo die Knotenpunkte enger beieinander liegen. Dorthin können wir uns besonders gut fallen lassen. An anderen Stellen ist das Netz nicht so dicht – das wären solche biblischen Erzählungen und Passagen, die etwas mehr Abstand zu den eben beschriebenen Maßstäben haben.

Unsere Aufgabe als Bibelleserinnen und Bibelleser wäre, uns mit diesen „dichten Maschen“ vertraut zu machen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen: Was bedeutet Liebe, vom Punkt der Gerechtigkeit aus gesehen? Und umgekehrt? Was bedeutet Güte in Bezug auf Liebe zu Gott? Wie beeinflussen sich beide Werte gegenseitig? Was bedeutet das Vorbild von Jesus in Verbindung mit unserem Vertrauen zu Gott? Und wie passen die schroffen, konfrontativen Seiten von Jesus ins Bild?

Das Einzelne mit dem großen Ganzen ins Gespräch bringen

Ein letzter Schritt bleibt noch zu gehen. Wir müssen ein weiteres Mal zurücktreten und ein noch größeres Bild in den Blick nehmen. Denn weder bei Jesus noch bei Paulus gibt es nur die paar zentralen Grundsätze, mit denen sich alle Situationen aufschlüsseln ließen. Paulus formuliert in seinen Briefen eine Fülle von einzelnen Anweisungen. Ganz selten sind die als seine persönliche Meinung deklariert. Oft beanspruchen sie Verbindlichkeit. Für Paulus reichte es also nicht aus, den Korinthern, Römern, Galatern (und wie sie alle heißen) nur die Grundsätze zu geben – und mit denen könnten sie in jeder Lage selbst das herausfinden, was Gott möchte. Konkrete Einzelweisungen waren nötig – und zwar nicht nur als austauschbare Beispiele, sondern (wenn wir es mal ganz hoch aufhängen wollen) als apostolische Anordnungen.

Bei Jesus ist es nicht anders. Die Bergpredigt wird auf ungemütliche Weise konkret. Und in einem seiner letzten Worte wollte Jesus, dass seine Nachfolgerinnen und Nachfolger alles weitergeben, was Jesus geboten hat (Matthäus 28,20) – ja: alles! Das macht die ganze Sache mit Gottes Wort doch wieder unübersichtlich. Dürfen wir denn dann überhaupt zwischen zentralen und eher randständigen Worten von Jesus unterscheiden? Ja, wir dürfen. Weil Jesus ja selbst mit Zusammenfassungen der Heiligen Schrift arbeitet. Bloß: Diese Zusammenfassungen dürfen nicht auf Kosten der einzelnen Worte gehen. Die Zusammenfassungen ordnen die Worte der Bibel und gewichten sie – aber sie ersetzen sie nicht. Das ist der Ertrag, auf den ich mit diesem Artikel hinauswill.

Ein Weg, der mündig macht

Sind wir damit doch wieder im Dickicht der Bibelverse angekommen? Müssen wir uns selbst die Schneisen schlagen? Können wir das überhaupt? Oder braucht es doch Experten – und das, wo doch der Untertitel dieser Artikelreihe ist: „Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen“?

Nein, Experten sind nicht nötig. Aber um die Aussagen von Gottes Wort zu ordnen und zu gewichten, müssen wir uns Zeit nehmen und auf eine lange Strecke einstellen. Ich habe es im vorigen Beitrag schon gesagt: Wir sollten uns langsam und stetig einlesen in die Bibel, in immer neuen Anläufen. Und das erfordert Jahre und Jahrzehnte.

Warum lohnt sich dieser Weg? Weil wir so mündig werden. Unabhängig von anderen, von Speakern und Experten. Abhängig vom Christuswirken in uns. Abhängig vom faszinierenden Geflecht der Bibel. Unabhängig aber von der jeweils aktuellen Meinungsströmung, komme sie von links oder rechts. Wir werden urteilsfähig. Und noch wichtiger: lebenstüchtig. Wir bleiben auf der Spur der Christusnachfolge, orientiert an seinem Wort. Ich finde, das ist ein Projekt, das es sich anzupacken lohnt.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.

Die nächste Folge in AUFATMEN 1-24 (Februar)…
… fragt nach der Klarheit, die entsteht, wenn wir alles in der Bibel zu Jesus in Bezug setzen.