Biblische Theologie auf einem Bierdeckel? – Türöffner-Serie Teil 3

Biblische Theologie auf einem Bierdeckel?

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 2: WARUM ES NICHT DEN EINEN EINFACHEN AUSLEGUNGSSCHLÜSSEL GIBT

Wenn wir die Bibel auf das zentrale Kondensat eindampfen – was kommt dann heraus? Was sind die wichtigsten Stellen? Und darf man diese Frage überhaupt so stellen? Fragen, die viele beschäftigen, die in der Bibel lesen. Antworten von Dr. Ulrich Wendel

Die Idee kam im Jahr 2003 auf: Eine Steuererklärung müsse so einfach sein, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Mir persönlich würde das die meistgehasste Arbeit des Jahres erleichtern.
Eine einfache Formel anwenden – und schon hat man das Ergebnis. Herrlich.

Und so etwas wäre ja nicht nur in Steuerfragen hilfreich. Nicht zuletzt im Glauben – oder genauer: im Bibelverständnis – ist es nötig, die Dinge herunterzubrechen und auf ein paar Grundlagen zurückzuführen. Wenn wir das nicht hinbekommen, verlieren wir uns im Dickicht der biblischen Einzelaussagen. Der Wunsch nach einer Art Formel, nach einem Generalschlüssel für Gottes Wort, ist schon alt. Was für die einen der Bierdeckel, war für einen anderen die Fläche von 30 Quadratzentimetern:

Zu den Rabbinen Schammai und Akiba war jemand gekommen, der zum Judentum übertreten wollte, wenn man ihn die ganze Thora (die Gebote Gottes) lehrt, während er auf einem Fuß steht. Schammai wies das Ansinnen ab – und Akiba gab ihm eine Faustregel: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere sind Kommentare. Geh und lern sie!“

Wie Jesus Gottes Wort herunterbricht

Christen werden hier schnell an die sogenannte Goldene Regel von Jesus erinnert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12). Damit ist klar: Auch Jesus gehört zu denen, die eine Zusammenfassung von Gottes Wort für richtig halten. Die Frage danach ist berechtigt und von Jesus bestätigt. Wenn Theologen späterer Zeiten nach der „Mitte der Schrift“ fragen, dann hat das eine gute Grundlage.

Eigentlich wäre also alles recht einfach: die Bibel zu verstehen, Gottes Willen zu erkennen, den Glauben zu gestalten. Die Frage ist bloß: Was ist denn die „Mitte der Schrift“? Was wäre die komprimierte Grundlage, die auf einen Bierdeckel oder wenigstens auf eine DIN-A5-Seite passt?

Jesus hat die „Goldene Regel“ formuliert – doch an anderer Stelle eine andere Zusammenfassung von Gesetz und Propheten gegeben: Gott zu lieben mit dem ganzen Wesen und aller Kraft, und den Nächsten lieben wie sich selbst – in diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Matthäus 22,37-39). Damit stehen wir vor einer Beobachtung, die unbequem sein könnte: Es gibt nicht die eine Zusammenfassung von Gottes Wort. Schon Jesus benutzte zwei verschiedene. Und wenn wir uns noch weiter in der Bibel umsehen, dann stoßen wir auf noch mehr Zusammenfassungen. Es könnte sein, dass unsere Suche nach einem Schlüssel für Gottes Wort doch zu einem längeren Weg wird und dass der Bierdeckel nicht ausreicht.

Grund-Sätze bei Paulus

Blicken wir von Jesus hinüber zu Paulus. Auch er arbeitet mit Zusammenfassungen des Glaubens – und auch er setzt den Schwerpunkt auf die Liebe. Basistexte bei ihm sind Römer 13,10; Galater 5,14 und 1. Thessalonicher 1,5. Die knappe Formel „Liebe“ ist bei Paulus zunächst sogar noch reduzierter als bei Jesus: Paulus betont nur die Nächstenliebe, hier nicht die Liebe zu Gott. Allerdings fängt er das durch eine andere Formulierung wieder auf: Was bei Christus zählt, ist einzig der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Galater 5,6). Die Liebe wird also ergänzt, oder genauer: ihr Antrieb wird genannt. Dieser besteht im Glauben. Dabei müssen wir „Glauben“ ganz konsequent im vollen neutestamentlichen Sinn verstehen, nämlich als Vertrauen. Glaube beschreibt eine Beziehung, in der wir uns ganz auf Christus verlassen. Paulus meint also nicht: Wir haben eine Überzeugung gewonnen oder eine Weltanschauung übernommen, und die mahnt uns dazu, Liebe zu üben. Das wäre ein Vorgang, der sich allein innerhalb des Menschen abspielt. Vielmehr meint Paulus, dass wir Gott glauben. Dass wir Jesus vertrauen. Dass wir uns Christus anvertrauen. Und dass diese Beziehung sich in der Nächstenliebe ausformt.

Die Liebe ist der Grundsatz – haben wir damit schon alle Zusammenfassungen des Glaubens bei Paulus erfasst? Nein, er bietet uns noch mehr an. Am Schluss des Galaterbriefs spricht er ausdrücklich von einer „Richtschnur“ (Galater 6,16). Wer mit theologischen Fachbegriffen etwas anfangen kann: Hier steht im Griechischen das Wort „Kanon“. Paulus verwendet also den Fachbegriff für das, was wir suchen: ein Generalschlüssel, ein allgemeiner Auslegungsmaßstab. Worin besteht nun diese Richtschnur? In einer „neuen Schöpfung“. Damit ist die Erneuerung und Umgestaltung der Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus angesprochen. Und diese Umgestaltung ist gerade nicht das Ergebnis eigener Bemühung. Nicht der Lebensstil, der sich aus einer Ethik ergibt, die an die Liebe orientiert ist. Die Erneuerung geschieht vielmehr durch das, was Christus in uns tut (2. Korinther 5,17).

Warum biblische Prinzipien nicht wirklich helfen

Das ist ein wichtiges Korrektiv für einen Liebes-Maßstab, in dem Nächstenliebe unsere Tat ist. „Neue Schöpfung“ ist die Tat (oder besser: das fortdauernde Tun) von Christus. Wenn wir Gottes Wort verstehen wollen und Gottes Willen erfassen möchten, dann nützen uns biblische Prinzipien nichts. Prinzipien wären handhabbare Grundsätze, praktikable Maximen – und die könnten wir
in die Hand nehmen und damit losmarschieren. Strenggenommen brauchen wir dann Gott gar nicht, um unser Leben nach Maximen auszurichten. Auch die „Goldene Regel“ von Jesus kann man durchaus als nichtgläubiger Mensch zu befolgen versuchen. Sogenannte biblische Prinzipien tragen immer die Gefahr in sich, dass wir uns mit ihnen verselbstständigen.

Von Paulus hören wir demgegenüber: Das Vertrauen (die Christusbeziehung) ist es, die sich in der Liebe auswirkt. Und: Neu geschaffen werden (passiv!) ist der Maßstab, ist der „Kanon“.

Spätestens jetzt ist klar, dass wir auch nicht mit dem bekannten Satz über die Liebe auskommen, um die Bibel richtig zu erfassen: „Liebe – und tu, was du willst“ (Augustinus). Man könnte von isolierten Bibelstellen her darauf kommen, dass Jesus und Paulus zustimmen würden. Doch so einfach ist es nicht. Jesus ergänzt die Liebe zu Gott, Paulus ergänzt die Vertrauensdimension und das Handeln von Christus an uns.

Orientierung an Christus – dem ganzen Christus

Überhaupt müssen wir Christus viel stärker in den Fokus rücken. Paulus hängt an sehr vielen Stellen in seinen Briefen die ganze Argumentation immer wieder an Jesus auf – auch dort, wo er nicht eigens betont, jetzt gebe er einen Grundsatz an. Bekannt ist der Hymnus aus Philipper 2: „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht …“ (Vers 5) – und dann beschreibt Paulus, wie Christus war. Dieses Argumentationsmuster ist für den Apostel zentral. Auch hier sehen wir also: Es geht nicht um Liebe an sich, sondern um eine besondere Liebe
– eine durch Jesus formatierte Liebe. Und wenn wir „Jesus“ sagen, müssen wir an all das denken, was Christus ausmacht: Liebe, ja, aber auch Klarheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Zorn, Vergebung, Androhung des Gerichts … unsere Vorstellung von Christus muss breit aufgestellt sein.

„Breit aufgestellt“: Das ist nun aber ja gerade das Gegenteil einer schlanken Formel, einer theologischen Bierdeckel-Lösung. Wie schon am Anfang vermutet: Die Suche nach einem längeren Weg.

Ein Blick ins Alte Testament

Es gibt also nicht die eine Zusammenfassung von Gottes Wort, sondern eine Mehrzahl. Bevor wir einen Schritt weitergehen und überlegen, was wir mit dieser Mehrzahl anfangen sollen, wie
wir sie anordnen sollen – schauen wir in einem Seitenblick kurz ins Alte Testament. Unter den verschiedenen Anläufen, besonders zentrale Gebote zu benennen, ist eine Formulierung des Propheten Micha prägnant:

„Er hat dir mitgeteilt, Mensch, was gut ist. Und was fordert der Herr [anderes] von dir, als Recht zu üben und Güte zu lieben und einsichtig zu gehen mit deinem Gott?“ (Micha 6,8). Hier haben wir drei Schwerpunkte. Die Liebe steht in der Mitte. Sie richtet sich nicht direkt auf Menschen, sondern auf eine Haltung: Güte. Die kommt aber natürlich direkt Menschen zugute. Daneben steht die Gerechtigkeit. Auch ein Grundwert und ein Maßstab, anhand dessen man viele Situationen entscheiden kann. Das dritte Glied aber überschreitet die Ebene von Werten und Haltungen. Wir sind gerufen, mit Gott zu gehen. Wieder ist also die Beziehung angesprochen. Die Beobachtung bei Paulus bestätigt sich bei Micha: Wir können nicht ohne enge Rückbindung an Gott mit Maximen und Maßstäben hantieren.

Ein Netz mit unterschiedlicher Dichte

Treten wir einen Schritt zurück und versuchen, das bisherige Bild in den Blick zu nehmen. Auf der Suche nach Verstehensschlüsseln haben wir nicht unendlich viele gefunden, aber auch nicht nur einen einzigen. Unsere Maßstäbe sind Liebe zu Gott und den Menschen, Gerechtigkeit, das Vorbild von Jesus. Außerdem, dass wir uns Gott anvertrauen, und das, was Christus in uns bewirkt. Ich stelle mir ein Netz vor, in dem die Maschen an unterschiedlichen Stellen dichter geknüpft sind und wo die Knotenpunkte enger beieinander liegen. Dorthin können wir uns besonders gut fallen lassen. An anderen Stellen ist das Netz nicht so dicht – das wären solche biblischen Erzählungen und Passagen, die etwas mehr Abstand zu den eben beschriebenen Maßstäben haben.

Unsere Aufgabe als Bibelleserinnen und Bibelleser wäre, uns mit diesen „dichten Maschen“ vertraut zu machen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen: Was bedeutet Liebe, vom Punkt der Gerechtigkeit aus gesehen? Und umgekehrt? Was bedeutet Güte in Bezug auf Liebe zu Gott? Wie beeinflussen sich beide Werte gegenseitig? Was bedeutet das Vorbild von Jesus in Verbindung mit unserem Vertrauen zu Gott? Und wie passen die schroffen, konfrontativen Seiten von Jesus ins Bild?

Das Einzelne mit dem großen Ganzen ins Gespräch bringen

Ein letzter Schritt bleibt noch zu gehen. Wir müssen ein weiteres Mal zurücktreten und ein noch größeres Bild in den Blick nehmen. Denn weder bei Jesus noch bei Paulus gibt es nur die paar zentralen Grundsätze, mit denen sich alle Situationen aufschlüsseln ließen. Paulus formuliert in seinen Briefen eine Fülle von einzelnen Anweisungen. Ganz selten sind die als seine persönliche Meinung deklariert. Oft beanspruchen sie Verbindlichkeit. Für Paulus reichte es also nicht aus, den Korinthern, Römern, Galatern (und wie sie alle heißen) nur die Grundsätze zu geben – und mit denen könnten sie in jeder Lage selbst das herausfinden, was Gott möchte. Konkrete Einzelweisungen waren nötig – und zwar nicht nur als austauschbare Beispiele, sondern (wenn wir es mal ganz hoch aufhängen wollen) als apostolische Anordnungen.

Bei Jesus ist es nicht anders. Die Bergpredigt wird auf ungemütliche Weise konkret. Und in einem seiner letzten Worte wollte Jesus, dass seine Nachfolgerinnen und Nachfolger alles weitergeben, was Jesus geboten hat (Matthäus 28,20) – ja: alles! Das macht die ganze Sache mit Gottes Wort doch wieder unübersichtlich. Dürfen wir denn dann überhaupt zwischen zentralen und eher randständigen Worten von Jesus unterscheiden? Ja, wir dürfen. Weil Jesus ja selbst mit Zusammenfassungen der Heiligen Schrift arbeitet. Bloß: Diese Zusammenfassungen dürfen nicht auf Kosten der einzelnen Worte gehen. Die Zusammenfassungen ordnen die Worte der Bibel und gewichten sie – aber sie ersetzen sie nicht. Das ist der Ertrag, auf den ich mit diesem Artikel hinauswill.

Ein Weg, der mündig macht

Sind wir damit doch wieder im Dickicht der Bibelverse angekommen? Müssen wir uns selbst die Schneisen schlagen? Können wir das überhaupt? Oder braucht es doch Experten – und das, wo doch der Untertitel dieser Artikelreihe ist: „Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen“?

Nein, Experten sind nicht nötig. Aber um die Aussagen von Gottes Wort zu ordnen und zu gewichten, müssen wir uns Zeit nehmen und auf eine lange Strecke einstellen. Ich habe es im vorigen Beitrag schon gesagt: Wir sollten uns langsam und stetig einlesen in die Bibel, in immer neuen Anläufen. Und das erfordert Jahre und Jahrzehnte.

Warum lohnt sich dieser Weg? Weil wir so mündig werden. Unabhängig von anderen, von Speakern und Experten. Abhängig vom Christuswirken in uns. Abhängig vom faszinierenden Geflecht der Bibel. Unabhängig aber von der jeweils aktuellen Meinungsströmung, komme sie von links oder rechts. Wir werden urteilsfähig. Und noch wichtiger: lebenstüchtig. Wir bleiben auf der Spur der Christusnachfolge, orientiert an seinem Wort. Ich finde, das ist ein Projekt, das es sich anzupacken lohnt.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.

Die nächste Folge in AUFATMEN 1-24 (Februar)…
… fragt nach der Klarheit, die entsteht, wenn wir alles in der Bibel zu Jesus in Bezug setzen.