Paulus & Co. von Jesus her auslegen

Paulus und Co. von Jesus her auslegen

Überlegungen zum Bibelverständnis innerhalb des Neuen Testaments

In unserer Serie „Türöffner für Gottes Wort – Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen“ erklärt Dr. Ulrich Wendel in Folge 4 (AUFATMEN 1-24), was es bedeutet, die Bibel von Jesus her zu verstehen. Eine Frage, die es nicht in den Artikel geschafft hat, beantwortet er im Folgenden: Was hätte Jesus zu Paulus gesagt? 

Um die Bibel sachgemäß und treffend zu verstehen, hat sich in der Geschichte der Christenheit ein Grundsatz besonders bewährt: sie von Christus her auszulegen. In der Landschaft der biblischen Texte (die manchmal etwas wild zerklüftet ist) bildet Christus sozusagen den Bergkamm: einen Höhenzug, der sich von vorn bis hinten durchzieht. Mal ist er sehr schmal, mal ist er breit und die umliegenden Gegenden sind fast auf einer Höhe mit ihm. Vom Bergkamm aus hat man jedenfalls dem besten Überblick und kann alles zuordnen. (Siehe dazu: Ulrich Wendel, Der biblische Bergkamm. Die Heilige Schaft von Jesus her lesen, in: AUFATMEN 1/2024, 48-51.).

Das ist vor allem ergiebig im Rückblick vom Christus-Gipfel aus – also im Blick auf das Alte Testament. Wenn wir uns die Bibel aber als Buch-Abfolge vorstellen: Was ist mit dem Blick voraus? Was ist mit den neutestamentlichen Briefen, was ist mit Paulus, der nach Jesus kam? Auch seine Worte müssen sich an Jesus messen lassen, wenn der eingangs genannte Grundsatz gilt. Wie aber würden wir dabei vorgehen? Und hat Paulus eine abgestufte Autorität, die der Autorität von Jesus untergeordnet ist?

Blicken wir zunächst auf zwei Modelle, die man leicht falsch anwendet.

Zwei Missverständnisse

Paulus – uns näher?

Einer bestimmten Auslegungstradition zufolge sind die Worte von Paulus für uns, die neutestamentliche Gemeinde, maßgeblicher als die Worte von Jesus. Denn Jesus habe zu den Juden gesprochen, Paulus aber zur Gemeinde – und diese beiden Gruppen gehören unterschiedlichen Epochen an. Es ist aber problematisch, Jesus so zu „zähmen“ und für wenig bedeutend zu erklären. Mehr dazu im Anhang dieses Artikels.

„Was Christum treibet“

Eine andere Verstehenstradition bezieht sich auf Martin Luther. Demnach soll als apostolisch (und verbindlich) gelten, „was Christum treibet“, also was Christus zur Geltung bringt. Und was diesem Kriterium nicht entspricht, sei demnach eben nicht verbindlich.

Doch so hat Luther seine Formulierung nicht gemeint. Er setzte sich mit dem Jakobusbrief auseinander und hatte Zweifel, ob das ein apostolischer Brief sei. Mit dem Kriterium, Christus zu „treiben“ und zu predigen, sortiert Luther Autoren und neutestamentliche Schriften (Bücher) – nicht aber die einzelnen Aussagen eines Autors. Gilt jemand erst einmal als Apostel, dann ist er das auch. Bei Paulus ist das zweifellos der Fall. Wir können uns nicht auf Luther berufen, wenn wie die Aussagen von Paulus einzeln danach beurteilen wollen, ob sie Christus entsprechen oder nicht. (2 Vgl. Clemens Hägele: Mit Christus gegen die Apostel? pfarrerverband.de – Archiv und Albrecht-Bengel-Haus – Bengeltheke (bengelhaus.de); und Guido Baltes:Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 11: „Was Christum treibet“: Ein erfundenes Luther-Zitat? – Bibelentdeckungen.de.)

Wie aber verstehen wir das Verhältnis von Paulus und Jesus dann? Wie können wir Paulus im Licht von Jesus auslegen?

Was Paulus von Jesus bekam

Grundsätzlich sollten wir von einer theologischen Übereinstimmung zwischen Paulus und Jesus ausgehen. Wo wir Unterschiede wahrnehmen, sollten wir uns fragen, ob das nicht zunächst an einer leicht verzerrten Wahrnehmung von Paulus liegen könnte. So ist Paulus z. B. bei genauem Lesen nicht so „frauenfeindlich“, wie man es manchmal hört (Vgl. Ulrich Wendel: Führende Frauen in der Bibel. Priska, Junia & Co., Gießen 2.Aufl. 2007) – und damit besteht dann auch keine große Differenz mehr zu Jesus.

Wie aber können wir diese theologische Übereinstimmung begründen? Was stellt die Worte von Paulus und die von Jesus theologisch auf eine Ebene?

Paulus bekam Inhalte von und über Jesus und eine entsprechende Autorisierung auf verschiedenen Ebenen:

1. Das Zeugnis als Apostel

Paulus hatte eine direkte Jesusbegegnung. Das machte ihm zum Apostel. Obwohl es der nachösterliche, „erhöhte“ Christus war, der Paulus begegnete, und nicht der irdische Jesus, der drei Jahre mit seinen zwölf Jüngern verbracht hatte, beansprucht Paulus, den zwölf Aposteln ebenbürtig zu sein. Er hat das Evangelium erlebt, nämlich die Begnadigung des Sünders und seine Berufung zum Dienst, unabhängig von seinen Werken, allein durch Gnade, wirksam gemacht allein durch Glauben.

Aus dieser Apostelberufung ergibt sich eine besondere Autorität von Paulus (Gal 1,1-12). Sie ist nicht an die Person von Paulus an sich, sondern an den Inhalt des Evangeliums gebunden (Gal 1,7-9), doch Paulus ist davon überzeugt, dieses Evangelium richtig zu vertreten und zur Sprache zu bringen (Gal 1,12).

2. Überlieferung des Evangeliums

Diese Christusbegegnung allein hat ja noch nicht unbedingt ausdifferenzierte Inhalte über das Evangelium mit sich gebracht. Aber solche Inhalte hat Paulus – abgesehen von seinem Erlebnis vor Damaskus – ebenfalls bekommen. In 1. Korinther 15,3-7 benennt er Überlieferung, die man ihm mitgeteilt hat. Er hatte ja Kontakt nicht nur zu einigen der zwölf Apostel, sondern auch zu anderen Jüngern der Anfangszeit (vgl. Apg 21,8.16; Röm 16,7). Von daher hatte er genug Stoff, um in seinen Gemeinden den Hörern „Christus vor Augen zu malen“ (Gal 3,1). („Paulus berichtet vom Leben und Wirken Jesu von Nazareth und verkündigt die Bedeutung seines Todes und seiner Auferstehung (…). Der Gebrauch des Jesus-Namens in 1Thess 1,10, ohne erläuternden Zusatz, ist en Hinweis darauf, dass Paulus von der Person des Menschen Jesus gesprochen hat.“ (Eckhard J. Schabel, Urchristliche Mission, 2. Aufl., Holzgerlingen 2018, S.1328).)

Wir müssen beachten: Wir haben ja nicht einerseits die direkten Worte von Jesus und andererseits das, was Paulus als Apostel sagt (in Reaktion auf das Evangelium). Vielmehr haben wir die Worte von Jesus und die Berichte über sein Leben auch „nur“ aus dem Mund der Apostel bzw. aus ihrer Feder. (Das betrifft das Matthäus- und Johannesevangelium; Markus (als Übersetzer des Apostels Petrus) und Lukas waren ja nicht selbst Apostel, sondern stehen noch einen Kreis weiter außen: Jesus → Apostel → Buchautoren Markus/Lukas.) Damit ist gesagt: Wenn wir das Evangelium von Jesus nach dem Zeugnis der Apostel Petrus, Matthäus und Johannes hören und das Evangelium nach dem Zeugnis des Apostels Paulus – dann haben wir durch beide Arten des Zeugnisses ungefähr denselben Abstand zu Jesus. Paulus ist nicht weiter weg von ihm.

3. Direkte Offenbarungen durch Christus

Paulus muss direkte geistliche Offenbarungen von Christus empfangen haben. Christus selbst hatte ihm das zugesagt: „Denn hierzu bin ich dir erschienen, dich zu einem Diener und Zeugen dessen zu verordnen, was du gesehen hast, wie auch dessen, worin ich dir erscheinen werde“ (Apg 26,16). „Worin ich dir erscheinen werde“ – Jesus hatte also explizit vor, Paulus auch nach „Damaskus“ zu erscheinen und darin etwas zu vermitteln, das Paulus danach bezeugen konnte. Vielleicht gehört die in Galater 1,12 erwähnte Offenbarung auch hierher.

Damit hat Paulus eine „Nachschulung“ bekommen, wie sie auch die elf Apostel nach Ostern bekamen (Apg 1,2). Auch hier ist er den Augenzeugen des vorösterlichen Jesus also gleichgestellt.

4. Prophetische Worte

Paulus war nicht nur Apostel (das war etwas sehr Besonderes), sondern auch Prophet in der Reihe der urchristlichen Propheten (das war also nicht ganz so außergewöhnlich). An vielen Stellen können wir diese prophetischen Offenbarungen heute noch lesen. Einerseits waren es situationsbezogene Worte für ihn (z. B. Apg 18, 9-10; 27,23-26). Zum anderen aber bekam Paulus auch allgemein gültige, bis heute noch verbindliche Worte (z. B. 1Kor 15,51-52 oder 53( Das verwendete Wort „Geheimnis“ ist ein Fachausdruck im Rahmen prophetischer Rede.); 1Thess 4,15-17).

Was sagt das über die Autorität von Paulus in dieser Hinsicht? Propheten in der Gemeinde von Jesus gibt es viele und soll es zu allen Zeiten geben. Ihre Worte sind natürlich den Worten von Jesus untergeordnet. Sie stehen mit Christus nicht auf Augenhöhe. Gleiches müsste also zunächst für Paulus gelten, wenn er prophetische Worte weitergibt. Auf der anderen Seite sind diese Worte in einen apostolischen Brief aufgenommen worden, und apostolisch bedeutet ja: mit Jesus-Autorität (siehe Punkt 1). Deshalb sollten wir zumindest denjenigen prophetischen Botschaften des Apostels, die sich nicht auf eine einzelne Situation beziehen, einen Erkenntnis-Vorsprung zumessen.

5. Schriftworte und Jesus-Überlieferung

Zu dem, was Paulus von Jesus bekommen hat, zählen schließlich auch neutestamentliche Schriftworte. Natürlich war das Neue Testament damals noch nicht geschrieben, vermutlich nicht einmal einzelne Bücher. Dennoch zitiert Paulus Jesusworte, die wir dann in unserem Neuen Testament wiederfinden. Sie gehören offenbar zu mündlicher Überlieferung, die sowohl Paulus als auch den vier Evangelisten zugänglich wurde.

Solche Jesusworte spricht Paulus in 1. Korinther 7,10-11 an, ferner in 1. Korinther 9,14; 11,23-25. Für diejenigen, die den 1. Timotheusbrief nicht einem späteren Autor zuordnen, sondern ihn für einen Paulusbrief halten, ist auch die Stelle 1. Timotheus 5,18 wichtig. Hier wird ein Wort aus dem Alten Testament zitiert sowie ein Jesuswort, das wir auch in Lukas 10,7 finden – und beides wird als Zitat aus der Schrift bezeichnet!

Paulus ist also auch insofern in Einklang mit Jesus, als er fest geprägte und überlieferte Jesusworte heranzieht. In 1. Korinther 7 unterscheidet er diese Weisung des Herrn ausdrücklich von seiner eigenen Ansicht. Diese eigene Meinung ist nicht so verbindlich wie die Weisung von Jesus – immerhin aber auch unter Einfluss des Heiligen Geistes entstanden (1Kor 7,40).

Was sagt uns dies für die übrigen Teile der Paulusbriefe? Lesen wir überall seine eigene (wohlbegründete, geistgeprägte) Meinung – und nur da, wo er es ausdrücklich sagt, liegt tatsächlich ein Wort des Herrn vor? Oder ist es umgekehrt: Nur dort, wo Paulus es ausdrücklich kenntlich macht, sagt er seine eigene Meinung (so z.B. in 2Kor 8,10), und überall sonst spricht er autoritativ als Apostel von Jesus?

Der Charakter der Briefe und das apostolische Selbstverständnis von Paulus scheint für die zweite Möglichkeit zu sprechen. So kann er – ganz nebenbei – auf seine „Wege in Christus“ verweisen, wie er sie überall in jeder Gemeinde lehrt (1Kor 4,17). An diese Lehre soll Timotheus die Gemeinden erinnern. Paulus geht also davon aus, dass selbst das Zitieren, Wiederholen oder Unterstreichen seiner Lehre einen verbindlichen Charakter hat.

Rückschluss auf die Paulus-Auslegung

Wie also können wir die Paulusbriefe im Licht von Jesus verstehen und beurteilen?

Im Blick auf das Alte Testament lassen sich vier Möglichkeiten benennen, wie Jesus zu den einzelnen Aussagen steht:
Jesus hat bzw. hätte
1. den alttestamentlichen Aussagen zugestimmt oder
2. etwas ergänzt
3. oder widersprechend gesagt: „Ich aber sage euch: …“
4. oder dasselbe Ziel verfolgt, aber aus einer anderen Voraussetzung, Quelle, Motivation und Kraft.

Für Paulus gelten diese vier Möglichkeiten vielleicht in folgender Weise:

1. Jesus würde Paulus in vielem zustimmen – z. B. in der Aussage, dass die Liebe das Gesetz erfüllt (Gal 5,14 u.ö.), dass der Glaube in der Liebe tätig sein muss (Gal 5,6) und vielem anderem.

2. Was Jesus gern bei Paulus ergänzt hätte, könne wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Wir könnten es nur aus einem Vergleich der Evangelien mit den Paulusbriefen erschließen. Zum Beispiel hätte Jesus vielleicht die Liebe zu Gott ergänzt, wenn Paulus sagt, die Nächstenliebe sie die Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,8-10; vgl. Mt 22,35-40). Solch ein Vergleich ist ein ganz normaler Vorgang bei der Auslegung des Neuen Testaments. Wir vergleichen ja auch den Jakobusbrief mit der Bergpredigt, die Petrus- mit den Paulusbriefen, das Johannes- mit dem Markusevangelium usw. Und uns ist auch der Gedanke vertraut, dass die neutestamentlichen Briefe manches ergänzen, was Jesus nur angedeutet oder gar nicht angesprochen hat. So hat er sich z. B. nicht zur Frage der Sklaverei geäußert, Paulus aber durchaus.

3. Hätte Jesus Paulus an manchen Stellen widersprochen? Nicht wenige Bibelleser haben diesen Eindruck. Es wäre aber die Frage, ob man dabei jeweils das Bild von Jesus und Paulus scharf eingestellt hat oder ob man das Klischeebild eines menschenfreundlichen Jesus dem Klischeebild eines schroffen Paulus (Siehe zu diesem Thema: Ulrich Wendel, Paulus – ein harter Hund? Über schroffe, zarte und faire Seiten des Apostels. In: Faszination Bibel 3/2011, 36ff.) gegenüberstellt. Über viele fragliche Stellen kann man in der gemeinsamen Schrifterkundung durchaus diskutieren.

4. Große Einigkeit besteht zwischen Jesus und Paulus, dass man den Willen Gottes nicht einfach durch äußere Taten erfüllen kann. Heiligung entsteht nicht von außen nach innen, nicht von Handlungen, die sich verändernd auf das Herz auswirken, sondern es ist umgekehrt: Das Herz muss verändert und erneuert werden, und nur so entsteht neues Handeln. Damit unterscheiden sich beide, Jesus und Paulus, vom Ansatz der Pharisäer. Und beide greifen das auf, was schon das Alte Testament vorbereitet hat, wenn es vom Wesen des neuen Bundes spricht (Jer 31,33; 32,40; Hes 36,26-27; vgl. auch Hes 14,5).

Fazit

Christus ist die Mitte der Schrift, und wir sollten die Schrift so auslegen, dass sich alles um ihn herum anordnet. Das gilt auch für das, was Paulus sagt. Dabei werden wir aber oft feststellen, dass Paulus in keiner Spannung zu Christus steht.

Den Weg, den wir hier für Paulus abgeschritten sind, müssten wir nun in ähnlicher Weise auch für den Hebräer-, Judas- und Jakobusbrief, die Petrus- und Johannesbriefe abschreiten. Das Ergebnis wird sich vermutlich nicht grundlegend von dem unterscheiden, das sich für Paulus gezeigt hat.

Christus ist der Höhenzug, der Bergkamm, der sich durch die Landschaft der Bibel zieht. Verfolgen wir diesen Bergkamm bis in die Gegend der Paulusbriefe, dann sehen wir, dass das Land um den Bergkamm nicht steil abfällt, sondern auf beträchtlichen Flächen auf einer Höhe mit ihm ist.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.

 

 

Anhang

Ein fragwürdiger Glaubenssatz: „Die Kirche muss sich nach Paulus richten, nicht nach Jesus!“

(Erschienen in Faszination Bibel 1/2017, S. 70-71. Hier leicht bearbeitet.)

Als Jesus auf der Erde lebte, gab es die Gemeinde noch nicht. Er sprach nur ganz selten von ihr. Zur Zeit der Apostel entstanden dann die ersten Gemeinden. Bald nahmen sie feste Formen an und eine Struktur entstand. Die Briefe des Paulus geben uns Einblick in viele organisatorische Fragen der jungen Kirche.

Wenn Christen sich heute Gedanken machen, wie Kirche und Gemeinde aussehen soll: Wäre es da nicht am praktischsten, sich nach den Vorgaben von Paulus zu richten? Wäre das nicht viel ergiebiger, als sich die wenigen Sätze von Jesus zum Thema zusammenzusuchen?

Für bestimmte Strömungen der evangelischen Christenheit ist genau dies das richtige Verfahren – aber nicht weil es praktischer ist, sondern weil es ihrer Auffassung nach so sein muss. Sie gehen von der Voraussetzung aus: Die zwölf Jünger waren Juden, und was Jesus ihnen sagte, gilt eben dem Volk Gottes, den Juden, nicht aber der christlichen Gemeinde. Die Gemeinde gehört vielmehr zu einem ganz neuen Abschnitt der Geschichte. Und dafür seien innerhalb der Bibel die Apostelbriefe maßgeblich. So ungefähr lautet der Auslegungsgrundsatz.

Die Jesus-Epoche und die Paulus-Epoche

Klassisch findet man diese Auffassung zum Beispiel in der Scofield-Bibel. Hier wird gelehrt: „Die Evangelien entwickelten nicht die Lehre der Gemeinde. … Die Evangelien zeigen uns eine Schar von jüdischen Jüngern, die auf Erden mit einem Messias in der Erniedrigung verbunden waren. Die Briefe zeigen uns eine Gemeinde, die der Leib des Christus ist, der aus den Wiedergeborenen besteht.“ Diese Unterscheidung zwischen Evangelien und Briefen des Neuen Testaments ist so grundlegend und wird bei manchen konservativen Christen für so wichtig gehalten, dass man tatsächlich von einer Art „Glaubenssatz“ sprechen kann.

Die Konsequenzen dieses Satzes liegen auf der Hand. Die Bergpredigt und die Gleichnisse von Jesus sind zwar wichtig, aber auf die konkrete Ausgestaltung der Gemeinde und ihrer Strukturen sollen sie nicht einwirken. Zwar kann man mancherlei aus der Verkündigung von Jesus für eine „moralische Anwendung auf das Volk Gottes in jeder heilsgeschichtlichen Stellung“ heranziehen (so O-Ton der Scofield-Bibel), aber nicht alles und nicht grundsätzlich.

Erstaunlich, welche Denkwege in der Geschichte der Bibelauslegung beschritten wurden! Wieder stoßen wir auf einen Gegensatz, der zwischen Jesus und Paulus aufgerissen wird. Es gibt die Überzeugung, dass Jesus das ursprüngliche und unverfälschte Evangelium gehabt und Paulus eine formalistische Dogmatik daraus gemacht habe. Paulus hält man sich mit dieser Begründung ein wenig auf Abstand. In der Auffassung, wie die Scofield-Bibel sie hat, ist es nun umgekehrt, wenn auch mit ganz anderer Begründung. Jesus ist selbstverständlich die Grundlage der Erlösung, aber für die konkreten Fragen des Gemeindelebens hält man ihn ein wenig auf Abstand.

Die Klammer um Jesus und die Kirche

Entscheidend für Scofield und andere Vertreter der hier beschriebenen Auffassung ist die Lehre von den verschiedenen Heilszeiten. Mit Pfingsten, so lehrt man, hat eine neue Zeit begonnen, die der Gemeinde, und die hat ihre eigenen Maßstäbe. Doch liest man das Neue Testament unbefangen und ohne ein Lehrsystem im Hinterkopf, so würde man kaum auf die Idee kommen, zwischen Jesus und Paulus so einen Schnitt zu machen. Die zwölf Jünger erscheinen vielmehr wie die Keimzelle der späteren Gemeinde. Was Jesus ihnen über Herrschaft und Dienen sagt (Matthäus 20,24-28; 23,8-12), muss doch wohl auch in der Kirche – in der Gemeinde von Jesus – gelten. Die Verheißungen, die Jesus in den Seligpreisungen gibt (Armut wird gestillt, Hungernde werden gesättigt, Ausgestoßene werden anerkannt; Lukas 6,20-23) erfüllen sich in der Urgemeinde von Jerusalem. Wenn Jesus seine zwölf Jünger zu den Menschen aussendet (und später tat er das mit 72 weiteren Jüngern), geschieht genau das, was später auch durch die Kirche passieren soll: Die Botschaft breitet sich aus und wird durch die Kraft des Geistes bestätigt. Und Paulus seinerseits zieht Worte von Jesus heran, um die Ordnungen in der Gemeinde zu begründen (z. B. 1. Timotheus 5,18). Schließlich sollte noch zu denken geben, dass es erhebliche Parallelen zwischen dem Jakobusbrief und der Bergpredigt gibt. (Eine Übersicht findet sich in Rienecker/Maier/Schick/Wendel: Lexikon zu Bibel, 5. Aufl. 2021, 581.) Nein, es kann nicht angehen, Jesus aus der Gestaltung der Kirche so grundlegend herauszuhalten. Jesus und die Kirche befinden sich innerhalb einer gemeinsamen Klammer.

Eine Variante dieses Gegensatzes zwischen Evangelien und Briefen kommt übrigens aus einer ganz anderen Ecke, nämlich aus der historisch-kritischen Theologie der 1960er-Jahre. Dort erkannte man an, dass – zumindest nach der Berichterstattung der Apostelgeschichte – die Urgemeinde in Jerusalem das verwirklichte, was Jesus gelehrt hat. Bloß – das war damals die „Goldene Anfangszeit“ der Kirche. Doch nachdem die ersten Apostel (Petrus & Co.) gestorben waren, sei eben auch diese Anfangsepoche zu Ende gegangen. Und allen sei das bewusst gewesen, auch Paulus. Selbst Lukas, der von der Urgemeinde berichtete, habe gar nicht gewollt, dass seine Leser sie zum Vorbild nehmen, denn sie leben eben in einer anderen Zeit! Auch so kann man einen Strich zwischen Jesus und die spätere Zeit der Kirche ziehen.

Welche Lehre bewährt sich?

Ob die Auslegungsgrundsätze von Scofield den Test der Zeit bestehen und sich bewähren, wenn das Evangelium unter Druck gerät, muss sich vielleicht erst noch zeigen. Die gegenteilige Auffassung aber – dass die Kirche sich allem nach Jesus richten muss – hat diesen Test der Zeit bereits bestanden. In der Hitlerzeit waren die Versuche massiv, die Kirche und ihre einzelnen Gemeinden zu bedrängen und in den Staat einzugliedern. Dagegen wehrte sich die Bekennende Kirche, die sich (in aller Schwachheit) bis zuletzt nicht von den Nazis über den Tisch ziehen ließ. Grundlage für die Bekennende Kirche war die Barmer Theologische Erklärung, in deren dritter These es heißt, dass die Kirche „allein sein [Jesu] Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.“ Allein die Weisung von Jesus gilt also! Und das bezieht die Barmer Erklärung ausdrücklich auf „die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung“. Auch die Ordnung, auch die äußere Gestalt der Gemeinde richtet sich also nach Jesus. Die Evangelien sind ihr uneingeschränkter Maßstab.

Biblische Theologie auf einem Bierdeckel? – Türöffner-Serie Teil 3

Biblische Theologie auf einem Bierdeckel?

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 2: WARUM ES NICHT DEN EINEN EINFACHEN AUSLEGUNGSSCHLÜSSEL GIBT

Wenn wir die Bibel auf das zentrale Kondensat eindampfen – was kommt dann heraus? Was sind die wichtigsten Stellen? Und darf man diese Frage überhaupt so stellen? Fragen, die viele beschäftigen, die in der Bibel lesen. Antworten von Dr. Ulrich Wendel

Die Idee kam im Jahr 2003 auf: Eine Steuererklärung müsse so einfach sein, dass sie auf einen Bierdeckel passt. Mir persönlich würde das die meistgehasste Arbeit des Jahres erleichtern.
Eine einfache Formel anwenden – und schon hat man das Ergebnis. Herrlich.

Und so etwas wäre ja nicht nur in Steuerfragen hilfreich. Nicht zuletzt im Glauben – oder genauer: im Bibelverständnis – ist es nötig, die Dinge herunterzubrechen und auf ein paar Grundlagen zurückzuführen. Wenn wir das nicht hinbekommen, verlieren wir uns im Dickicht der biblischen Einzelaussagen. Der Wunsch nach einer Art Formel, nach einem Generalschlüssel für Gottes Wort, ist schon alt. Was für die einen der Bierdeckel, war für einen anderen die Fläche von 30 Quadratzentimetern:

Zu den Rabbinen Schammai und Akiba war jemand gekommen, der zum Judentum übertreten wollte, wenn man ihn die ganze Thora (die Gebote Gottes) lehrt, während er auf einem Fuß steht. Schammai wies das Ansinnen ab – und Akiba gab ihm eine Faustregel: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere sind Kommentare. Geh und lern sie!“

Wie Jesus Gottes Wort herunterbricht

Christen werden hier schnell an die sogenannte Goldene Regel von Jesus erinnert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 7,12). Damit ist klar: Auch Jesus gehört zu denen, die eine Zusammenfassung von Gottes Wort für richtig halten. Die Frage danach ist berechtigt und von Jesus bestätigt. Wenn Theologen späterer Zeiten nach der „Mitte der Schrift“ fragen, dann hat das eine gute Grundlage.

Eigentlich wäre also alles recht einfach: die Bibel zu verstehen, Gottes Willen zu erkennen, den Glauben zu gestalten. Die Frage ist bloß: Was ist denn die „Mitte der Schrift“? Was wäre die komprimierte Grundlage, die auf einen Bierdeckel oder wenigstens auf eine DIN-A5-Seite passt?

Jesus hat die „Goldene Regel“ formuliert – doch an anderer Stelle eine andere Zusammenfassung von Gesetz und Propheten gegeben: Gott zu lieben mit dem ganzen Wesen und aller Kraft, und den Nächsten lieben wie sich selbst – in diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Matthäus 22,37-39). Damit stehen wir vor einer Beobachtung, die unbequem sein könnte: Es gibt nicht die eine Zusammenfassung von Gottes Wort. Schon Jesus benutzte zwei verschiedene. Und wenn wir uns noch weiter in der Bibel umsehen, dann stoßen wir auf noch mehr Zusammenfassungen. Es könnte sein, dass unsere Suche nach einem Schlüssel für Gottes Wort doch zu einem längeren Weg wird und dass der Bierdeckel nicht ausreicht.

Grund-Sätze bei Paulus

Blicken wir von Jesus hinüber zu Paulus. Auch er arbeitet mit Zusammenfassungen des Glaubens – und auch er setzt den Schwerpunkt auf die Liebe. Basistexte bei ihm sind Römer 13,10; Galater 5,14 und 1. Thessalonicher 1,5. Die knappe Formel „Liebe“ ist bei Paulus zunächst sogar noch reduzierter als bei Jesus: Paulus betont nur die Nächstenliebe, hier nicht die Liebe zu Gott. Allerdings fängt er das durch eine andere Formulierung wieder auf: Was bei Christus zählt, ist einzig der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Galater 5,6). Die Liebe wird also ergänzt, oder genauer: ihr Antrieb wird genannt. Dieser besteht im Glauben. Dabei müssen wir „Glauben“ ganz konsequent im vollen neutestamentlichen Sinn verstehen, nämlich als Vertrauen. Glaube beschreibt eine Beziehung, in der wir uns ganz auf Christus verlassen. Paulus meint also nicht: Wir haben eine Überzeugung gewonnen oder eine Weltanschauung übernommen, und die mahnt uns dazu, Liebe zu üben. Das wäre ein Vorgang, der sich allein innerhalb des Menschen abspielt. Vielmehr meint Paulus, dass wir Gott glauben. Dass wir Jesus vertrauen. Dass wir uns Christus anvertrauen. Und dass diese Beziehung sich in der Nächstenliebe ausformt.

Die Liebe ist der Grundsatz – haben wir damit schon alle Zusammenfassungen des Glaubens bei Paulus erfasst? Nein, er bietet uns noch mehr an. Am Schluss des Galaterbriefs spricht er ausdrücklich von einer „Richtschnur“ (Galater 6,16). Wer mit theologischen Fachbegriffen etwas anfangen kann: Hier steht im Griechischen das Wort „Kanon“. Paulus verwendet also den Fachbegriff für das, was wir suchen: ein Generalschlüssel, ein allgemeiner Auslegungsmaßstab. Worin besteht nun diese Richtschnur? In einer „neuen Schöpfung“. Damit ist die Erneuerung und Umgestaltung der Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus angesprochen. Und diese Umgestaltung ist gerade nicht das Ergebnis eigener Bemühung. Nicht der Lebensstil, der sich aus einer Ethik ergibt, die an die Liebe orientiert ist. Die Erneuerung geschieht vielmehr durch das, was Christus in uns tut (2. Korinther 5,17).

Warum biblische Prinzipien nicht wirklich helfen

Das ist ein wichtiges Korrektiv für einen Liebes-Maßstab, in dem Nächstenliebe unsere Tat ist. „Neue Schöpfung“ ist die Tat (oder besser: das fortdauernde Tun) von Christus. Wenn wir Gottes Wort verstehen wollen und Gottes Willen erfassen möchten, dann nützen uns biblische Prinzipien nichts. Prinzipien wären handhabbare Grundsätze, praktikable Maximen – und die könnten wir
in die Hand nehmen und damit losmarschieren. Strenggenommen brauchen wir dann Gott gar nicht, um unser Leben nach Maximen auszurichten. Auch die „Goldene Regel“ von Jesus kann man durchaus als nichtgläubiger Mensch zu befolgen versuchen. Sogenannte biblische Prinzipien tragen immer die Gefahr in sich, dass wir uns mit ihnen verselbstständigen.

Von Paulus hören wir demgegenüber: Das Vertrauen (die Christusbeziehung) ist es, die sich in der Liebe auswirkt. Und: Neu geschaffen werden (passiv!) ist der Maßstab, ist der „Kanon“.

Spätestens jetzt ist klar, dass wir auch nicht mit dem bekannten Satz über die Liebe auskommen, um die Bibel richtig zu erfassen: „Liebe – und tu, was du willst“ (Augustinus). Man könnte von isolierten Bibelstellen her darauf kommen, dass Jesus und Paulus zustimmen würden. Doch so einfach ist es nicht. Jesus ergänzt die Liebe zu Gott, Paulus ergänzt die Vertrauensdimension und das Handeln von Christus an uns.

Orientierung an Christus – dem ganzen Christus

Überhaupt müssen wir Christus viel stärker in den Fokus rücken. Paulus hängt an sehr vielen Stellen in seinen Briefen die ganze Argumentation immer wieder an Jesus auf – auch dort, wo er nicht eigens betont, jetzt gebe er einen Grundsatz an. Bekannt ist der Hymnus aus Philipper 2: „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht …“ (Vers 5) – und dann beschreibt Paulus, wie Christus war. Dieses Argumentationsmuster ist für den Apostel zentral. Auch hier sehen wir also: Es geht nicht um Liebe an sich, sondern um eine besondere Liebe
– eine durch Jesus formatierte Liebe. Und wenn wir „Jesus“ sagen, müssen wir an all das denken, was Christus ausmacht: Liebe, ja, aber auch Klarheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Zorn, Vergebung, Androhung des Gerichts … unsere Vorstellung von Christus muss breit aufgestellt sein.

„Breit aufgestellt“: Das ist nun aber ja gerade das Gegenteil einer schlanken Formel, einer theologischen Bierdeckel-Lösung. Wie schon am Anfang vermutet: Die Suche nach einem längeren Weg.

Ein Blick ins Alte Testament

Es gibt also nicht die eine Zusammenfassung von Gottes Wort, sondern eine Mehrzahl. Bevor wir einen Schritt weitergehen und überlegen, was wir mit dieser Mehrzahl anfangen sollen, wie
wir sie anordnen sollen – schauen wir in einem Seitenblick kurz ins Alte Testament. Unter den verschiedenen Anläufen, besonders zentrale Gebote zu benennen, ist eine Formulierung des Propheten Micha prägnant:

„Er hat dir mitgeteilt, Mensch, was gut ist. Und was fordert der Herr [anderes] von dir, als Recht zu üben und Güte zu lieben und einsichtig zu gehen mit deinem Gott?“ (Micha 6,8). Hier haben wir drei Schwerpunkte. Die Liebe steht in der Mitte. Sie richtet sich nicht direkt auf Menschen, sondern auf eine Haltung: Güte. Die kommt aber natürlich direkt Menschen zugute. Daneben steht die Gerechtigkeit. Auch ein Grundwert und ein Maßstab, anhand dessen man viele Situationen entscheiden kann. Das dritte Glied aber überschreitet die Ebene von Werten und Haltungen. Wir sind gerufen, mit Gott zu gehen. Wieder ist also die Beziehung angesprochen. Die Beobachtung bei Paulus bestätigt sich bei Micha: Wir können nicht ohne enge Rückbindung an Gott mit Maximen und Maßstäben hantieren.

Ein Netz mit unterschiedlicher Dichte

Treten wir einen Schritt zurück und versuchen, das bisherige Bild in den Blick zu nehmen. Auf der Suche nach Verstehensschlüsseln haben wir nicht unendlich viele gefunden, aber auch nicht nur einen einzigen. Unsere Maßstäbe sind Liebe zu Gott und den Menschen, Gerechtigkeit, das Vorbild von Jesus. Außerdem, dass wir uns Gott anvertrauen, und das, was Christus in uns bewirkt. Ich stelle mir ein Netz vor, in dem die Maschen an unterschiedlichen Stellen dichter geknüpft sind und wo die Knotenpunkte enger beieinander liegen. Dorthin können wir uns besonders gut fallen lassen. An anderen Stellen ist das Netz nicht so dicht – das wären solche biblischen Erzählungen und Passagen, die etwas mehr Abstand zu den eben beschriebenen Maßstäben haben.

Unsere Aufgabe als Bibelleserinnen und Bibelleser wäre, uns mit diesen „dichten Maschen“ vertraut zu machen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen: Was bedeutet Liebe, vom Punkt der Gerechtigkeit aus gesehen? Und umgekehrt? Was bedeutet Güte in Bezug auf Liebe zu Gott? Wie beeinflussen sich beide Werte gegenseitig? Was bedeutet das Vorbild von Jesus in Verbindung mit unserem Vertrauen zu Gott? Und wie passen die schroffen, konfrontativen Seiten von Jesus ins Bild?

Das Einzelne mit dem großen Ganzen ins Gespräch bringen

Ein letzter Schritt bleibt noch zu gehen. Wir müssen ein weiteres Mal zurücktreten und ein noch größeres Bild in den Blick nehmen. Denn weder bei Jesus noch bei Paulus gibt es nur die paar zentralen Grundsätze, mit denen sich alle Situationen aufschlüsseln ließen. Paulus formuliert in seinen Briefen eine Fülle von einzelnen Anweisungen. Ganz selten sind die als seine persönliche Meinung deklariert. Oft beanspruchen sie Verbindlichkeit. Für Paulus reichte es also nicht aus, den Korinthern, Römern, Galatern (und wie sie alle heißen) nur die Grundsätze zu geben – und mit denen könnten sie in jeder Lage selbst das herausfinden, was Gott möchte. Konkrete Einzelweisungen waren nötig – und zwar nicht nur als austauschbare Beispiele, sondern (wenn wir es mal ganz hoch aufhängen wollen) als apostolische Anordnungen.

Bei Jesus ist es nicht anders. Die Bergpredigt wird auf ungemütliche Weise konkret. Und in einem seiner letzten Worte wollte Jesus, dass seine Nachfolgerinnen und Nachfolger alles weitergeben, was Jesus geboten hat (Matthäus 28,20) – ja: alles! Das macht die ganze Sache mit Gottes Wort doch wieder unübersichtlich. Dürfen wir denn dann überhaupt zwischen zentralen und eher randständigen Worten von Jesus unterscheiden? Ja, wir dürfen. Weil Jesus ja selbst mit Zusammenfassungen der Heiligen Schrift arbeitet. Bloß: Diese Zusammenfassungen dürfen nicht auf Kosten der einzelnen Worte gehen. Die Zusammenfassungen ordnen die Worte der Bibel und gewichten sie – aber sie ersetzen sie nicht. Das ist der Ertrag, auf den ich mit diesem Artikel hinauswill.

Ein Weg, der mündig macht

Sind wir damit doch wieder im Dickicht der Bibelverse angekommen? Müssen wir uns selbst die Schneisen schlagen? Können wir das überhaupt? Oder braucht es doch Experten – und das, wo doch der Untertitel dieser Artikelreihe ist: „Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen“?

Nein, Experten sind nicht nötig. Aber um die Aussagen von Gottes Wort zu ordnen und zu gewichten, müssen wir uns Zeit nehmen und auf eine lange Strecke einstellen. Ich habe es im vorigen Beitrag schon gesagt: Wir sollten uns langsam und stetig einlesen in die Bibel, in immer neuen Anläufen. Und das erfordert Jahre und Jahrzehnte.

Warum lohnt sich dieser Weg? Weil wir so mündig werden. Unabhängig von anderen, von Speakern und Experten. Abhängig vom Christuswirken in uns. Abhängig vom faszinierenden Geflecht der Bibel. Unabhängig aber von der jeweils aktuellen Meinungsströmung, komme sie von links oder rechts. Wir werden urteilsfähig. Und noch wichtiger: lebenstüchtig. Wir bleiben auf der Spur der Christusnachfolge, orientiert an seinem Wort. Ich finde, das ist ein Projekt, das es sich anzupacken lohnt.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel, Herausgeber verschiedener Bibelausgaben und Mitherausgeber des Lexikons zur Bibel.

Die nächste Folge in AUFATMEN 1-24 (Februar)…
… fragt nach der Klarheit, die entsteht, wenn wir alles in der Bibel zu Jesus in Bezug setzen.

7 Worte vom Kreuz

Die letzten Worte von Jesus

Seit Jahrhunderten werden diese Sätze immer wieder gelesen und zitiert. Jetzt bilden sie die Grundlage für ein Chormusical: Die „7 Worte vom Kreuz“ – geschrieben von Albert Frey, durchgeführt von der Creativen Kirche.

Das Magazin zu den „7 Worten“ gibt Hintergründe und Erklärungen zu jedem der Sätze und bietet Einblicke in die Entstehung des Chormusicals. Eine Einladung zum Lesen und Nachdenken.

Entweder allein – oder als Gruppe und ganze Gemeinde, zum Beispiel in der Passionszeit.

Bestellt euch das Heft direkt – für euch selbst oder gleich mehrere zu günstigen Mengenpreisen für eure Kleingruppe oder Gemeinde: www.bundes-verlag.net/7worte

 

Außerdem findet ihr hier drei Gottesdienstentwürfe passend zu den 7 Worten vom Kreuz:

Drei Gottesdienstentwürfe (PDF)

Diese Gottesdienstreihe lädt ein, sich den „7 Worten vom Kreuz“ zu nähern und in ihnen schon den Geist der Auferstehung zu entdecken. Bestehend aus:

1. Gottesdienst „In letzter Sekunde“
Noch am Kreuz bittet Jesus für die Menschen um Vergebung, macht einem Leidensgenossen Mut und stiftet neue Gemeinschaft. Drei Taten, die seine Botschaft von der grenzenlosen Liebe Gottes in ihrer ganzen Kraft erfahrbar werden lassen. Ein Gottesdienst über das, was jede und jeder von uns tun kann, um die Welt zu verändern.
Predigt: Dr. Fabian Vogt
Pfarrer und Referent für Evangelisation bei midi * der Zukunftswerkstatt von Kirche und Diakonie / Berlin

2. Gottesdienst „In der Not“
Wie jeder Mensch erlebt Jesus im Sterben Verzweiflung, Angst und körperliche Pein. Doch sein Leid mündet in die einzigartige Gewissheit, dass er nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hand. So bindet er sich auch im Moment absoluter Ohnmacht zurück an Gott, auf dessen Gegenwart er vertraut. Ein Gottesdienst über das, was uns in schweren Momenten Halt gibt.
Predigt: Matthias Kleiböhmer
Theologe und Bereichsleiter „Kommunikation und Spiritualität“ bei der Creativen Kirche / Witten.

3. Gottesdienst „In Zeit und Ewigkeit“
Von Anfang an war die Christenheit überzeugt: Das, was am Kreuz von Golgatha passiert ist, hat welthistorische Bedeutung. Und auch Jesus war sich dieser besonderen Aufgabe bewusst. Doch was genau wurde durch den Tod von Jesus „vollbracht“ und inwiefern ist es für uns noch relevant? Ein Gottesdienst über ein Ereignis, das die Geschichte verändert hat.
Predigt: Dagmar Wegener
Pastorin der Baptistengemeinde Schöneberg / Berlin

Die Wahrheit geht auf zwei Beinen – Türöffner-Serie Teil 2

Die Wahrheit geht auf zwei Beinen

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 2: DIE UNTERSCHIEDLICHEN LINIEN ENTDECKEN

Widerspricht sich die Bibel? Oder wie sind gegensätzliche Stellen zu deuten? Ulrich Wendel geht der Frage nach, warum die Bibel nicht immer einfache Antworten gibt. An drei Beispielen macht er das deutlich.

Um eine Sache zu erklären, muss man sie zunächst einfach machen. Das scheint mir das A und O aller Pädagogik zu sein. Als meine Kinder im Grundschulalter begannen, mir tiefere Frage über das Leben und über Gott zu stellen, da war mir klar: Jetzt kann ich nicht weit ausholen und sagen, das sei komplex und es käme darauf an … Ich musste auf den Punkt kommen. Eine heilsame Übung für mich.

Auch die ersten Lektionen für frischgebackene Christinnen und Christen sind meist einfach. In den Neuen Testamenten des „Gideon-Bundes“ zum Beispiel finden sich kurze thematische Übersichten unter der Überschrift „Wo finde ich Hilfe?“. Für jedes Thema werden ein paar Bibelstellen genannt. Frage und Antwort – fertig. Und das ist auch legitim. Fragen auf das Elementare herunterzubrechen ist eine große Kunst.

Und am Ende eines reifen Lebens, so stelle ich es mir vor, hat man vielleicht zurückgefunden zu einer weisen, reflektierten Einfachheit. Zu den großen Fragen des Lebens kann man wohlabgewogene, vom Wetter der Lebenserfahrung gegerbte und bewährte Sätze sprechen. Hoffentlich.

Simple Antworten zerbröseln

Doch in der langen Zwischenzeit spannt sich meist eine Phase aus, in der wir nicht mehr (oder noch nicht) mit einfachen Sätzen auskommen. Die simplen Antworten zerbröseln schnell, wenn man genauer hinschaut. Und mit den Antworten der Bibel ist es ebenso. Wo am Anfang wenige Schriftstellen genügten, tut sich bald ein weites Feld an verschiedenen Zusammenhängen auf.

Woran liegt das? Ist es nur unser Leben im 21. Jahrhundert, das so kompliziert ist? Liegt es am ur-menschlichen Hang zu zweifeln und zu hinterfragen? Ist Gottes Wort vielleicht klar, deutlich und geradlinig – und nur wir Menschen mit unserem verkrümmten Herzen kommen damit nicht zurecht?

Ich glaube, es liegt nicht einfach an unserer Unzulänglichkeit als Glaubende und Bibelleser. Ich meine vielmehr, die Bibel selbst ist so angelegt, dass sie sich einfachen Antworten entzieht, wenn es um die großen Fragen des Lebens geht. Gott hat sein Wort so gestaltet, dass es mehrgleisig läuft. Die Wahrheit geht oft auf zwei Beinen. Und wenn wir das dann vereinfachen wollen – dann hinkt die Sache.

Die Kirche ist sich bald darüber klar geworden, dass Gottes Wahrheit so angelegt ist. Klassisches Beispiel: die Lehre von Christus. Jesus Christus kann nur in paradoxen Sätzen beschrieben werden; er ist wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Beides zu 100 Prozent. Wenn man eine Seite ausblenden oder für weniger bedeutend erklären wollte, dann wäre die ganze Fülle von Jesus zerstört. Festgehalten wurde diese Einsicht 451 n. Chr. auf dem Konzil von Chalcedon. Sie ist ein Ergebnis nachträglicher Reflexion über die Bibel. Doch auch in der Bibel selbst lässt sich vielfach beobachten, dass wichtige Themen mehrgleisig angelegt sind. Das möchte ich an einigen Beispielen zeigen.

Die Welt: Feindesland oder Arbeitsplatz?

Wie sollen wir als Jesusleute der Welt gegenüberstehen, in der wir leben? Frühere Generationen hatten eine klare Antwort: Die Welt ist böse, sie „liegt im Argen“ und daher muss man sich von ihr fernhalten. Dafür gibt es starke Unterstützung durch die Bibel: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist! Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm“ (1Johannes 2,15). Die Welt ist vergänglich, ebenso die Begierden, mit denen sie angefüllt ist. Und ist nicht der Teufel der „Fürst dieser Welt“?

Das resultierende Verhalten war klar: Zieht nicht an einem Strang mit den Ungläubigen (nach 2. Korinther 6,14)! Christinnen und Christen, die so geprägt sind, lassen sich nicht auf die Kultur ihrer Umgebung ein, sondern schaffen innerhalb ihrer Gemeinden lieber eine eigene Kultur. Bei manchen ging das früher so weit, dass sie nicht an politischen Wahlen teilnahmen. Man kann diese Haltung deutlich mit einer Vielzahl an Bibelstellen untermauern. „Eindeutig biblisch“ also – oder nicht?

Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich große Augen bekam, als ein Dozent in einer Bibelarbeit mit uns das Gebet von Jesus in Johannes 17 durchging. Da findet sich die klassische Formulierung über die Jünger: „Sie sind nicht von der Welt“. Jesus betet im Anschluss daran, dass Gott seine Jünger „heiligt“. Doch an was für eine Heiligung denkt Jesus dabei? „Ich habe sie in die Welt gesandt“, ist sein nächster Satz (V. 14-18)! Das ist das exakte Gegenteil von Welt-Distanz. Wenn Jesusleute heilig leben, gehen sie auf die Welt zu und nicht von der Welt weg. Und dabei sind sie – nach Jesus – gerade nicht zu andauernden Kompromissen gezwungen, sondern so leben sie als Geheiligte. Bewahrt vor dem Bösen, aber nicht der Welt entnommen (V. 15).

Es ist klar, dass ein Leben unter diesem Vorzeichen anders aussieht. Desinteresse an Kultur oder Politik wäre unter dem Niveau, das Jesus vorgibt. Ebenso das Desinteresse an all den Umständen, die jeden Menschen zu dem machen, der er geworden ist – also alle Einflüsse, die eine Biografie ausmachen, einschließlich psychologischer Zusammenhänge und all der Brüche in einem Menschenleben. All das ist „Welt“. Ganz entsprechend sagt auch Paulus, dass man sich gerade nicht von den „Ungläubigen“ distanzieren solle – „sonst müsstet ihr ja die Welt räumen“ (1. Korinther 5,10).

Und was ist mit dem bösen Charakter dieser Welt? Stimmen die Bibelverse denn nicht mehr, die man früher zitierte? Doch, klar. Aber sie markieren nur die eine Spur. Gottes Wort ist allerdings oft zweispurig aufgestellt.

Der Verstand: Rebell oder ein Instrument für Gott?

Ein anderes Beispiel: Wie vertrauenswürdig ist eigentlich der menschliche Verstand, wenn es um Gottes Dimension geht? Einerseits ist seine Rolle nach der Bibel sehr begrenzt. Man kann Gott nicht mit dem Verstand erkennen und den Weg zu ihm nicht allein durch Nachdenken finden. Auch sich selbst kann der Mensch nicht auf rationalem Wege erkennen und so nicht erfassen, wie er im tiefsten Wesen ist. Das zweite Kapitel des 1. Korintherbriefs ist ein Abgesang auf die menschliche Weisheit. Also: „Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen und stütze dich nicht auf deinen Verstand!“ (Sprüche 3,5).

Aber auch hier gilt: Damit ist noch nicht alles gesagt. Geistige Schlichtheit, intellektuelle Anspruchslosigkeit ist kein erstrebenswertes Ziel in Gottes Wort. „Sei nicht wie ein unvernünftiges Pferd oder ein Maultier, das Gebiss und Zaumzeug braucht, damit es folgt“ (Psalm 32,9). Diese Mahnung schließt unmittelbar an eine Verheißung an, dass Gott den Weg weisen möchte und dass sein Auge auf uns ruht (V. 8). Leitung durch Gott ersetzt also nicht den Verstand, sondern erfordert ihn geradezu. Wie bemerkenswert, dass Paulus genau denselben Zusammenhang benennt. In 1. Korinther 14 befasst er sich ausgiebig mit Geistesgaben wie Prophetie und Sprachengebet – beides also Wirklichkeiten, die rational nicht zu entschlüsseln sind. Die Wirkung von Gottes Geist geht weit über menschliches Denken hinaus. Doch mitten in diesem Kapitel ruft er aus: „Brüder, seid nicht Kinder am Verstand, sondern an der Bosheit seid Unmündige, am Verstand aber seid
Erwachsene!“ (V. 20).

Wir ahnen, warum dies kein Widerspruch zu den Grenzen der menschlichen Weisheit ist. Es gibt einen gott-fernen Verstand und ein mit Gott versöhntes und durch den Geist erneuertes Denken. Wenn das aber so ist, dann verbieten sich alle eindimensionalen Beschreibungen. Vollends gelöst ist der Widerspruch bei Jesus. Bei ihm ist der Verstand – neben dem Herz und der Seele – ein Instrument, um Gott zu lieben (Matthäus 22,37). Er zitiert hier das Alte Testament und betont aus dem umfassenden hebräischen Wort „Kraft“ (5. Mose 6,5) besonders den Verstandesaspekt.

Das waren zwei Beispiele, die nicht unbedingt zur Mitte der biblischen Theologie gehören. Sie sind aber eine gute Einübung in biblisches Denken; sie zeigen den Grundsatz auf – nämlich die Zweigleisigkeit der Bibel in vielen Bereichen. Und es wird klar, dass es starke Auswirkungen auf das eigene Leben hat, je nachdem, ob man eindimensional denkt oder der Wahrheit folgt, die auf zwei Beinen geht. Weit grundlegender ist das nächste Beispiel:

Schöpfung und Neuschöpfung

Als Jesusleute finden wir uns vor in der Spannung zwischen Schöpfung und Neuschöpfung. Beide Dimensionen bestimmen unsere Leben.

Schöpfung: Wir sind – auch als erlöste und durch Christus erneuerte Menschen – zunächst einmal ganz schlicht Geschöpfe. Wir sind den Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung nicht entnommen, z.B. dem gott-gegebenen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Wir tragen die Mühe einer Schöpfung, die von Gott entfremdet ist und deren ursprünglicher Zustand zerbrochen ist. Wir leben wie jeder andere Mensch auch unter dem Vorzeichen, dass unser „Ackerfeld“ voller Dornen und Disteln ist, dass wir unser Brot im Schweiße unseres Angesichts essen müssen und dass unsere Beschwerden zahlreich sind (1. Mose 3,16-19). Auch als Jesusleute seufzen wir noch mit der Schöpfung und warten auf die Erlösung (Römer 8,19-23).

Neuschöpfung: Seit wir durch Christus mit Gott versöhnt sind, hat sich etwas Entscheidendes getan. Wir sind neugeschaffen worden, sagt Paulus (2. Korinther 5). In der Ausdrucksweise von Johannes: Wir sind von oben her geboren worden (Johannes 3). Damit ist eine neue Dimension in unser Leben gekommen, uns stehen andere Möglichkeiten offen.

Krankheiten müssen nicht allein durch Ärzte kuriert werden, sondern können durch Jesus geheilt werden. Unsere großen und kleinen Egoismen müssen nicht durch Willenskraft überwunden werden, sondern Gottes Geist nimmt Einfluss auf unser Wollen und Können. Unsere Zuwendung zu anderen ist nicht durch die Grenzen von Sympathie und Antipathie definiert, sondern selbstlose Nächstenliebe entsteht in uns. Wir wachsen also über unsere Möglichkeiten hinaus.

Doch wir müssen festhalten: Es sind beide Ebenen, die uns prägen. Einerseits die Schöpfung – die ursprünglich gemeinte und die gebrochene. Und andererseits die Neuschöpfung. Die Spannung zwischen beiden wird zeitlebens bestehen bleiben und wir dürfen sie nicht einseitig auflösen. Wer behauptet, Christen würden kein Leid mehr erfahren, nimmt die Dimension der Schöpfung nicht ernst. Wer meint, die Gemeinde von Jesus könne heute nicht mehr mit Wundern rechnen, hat die Dimension der Neuschöpfung vergessen.

Oder auf den Alltag angewandt: Wer sich ständig in bester Absicht völlig verausgabt (für den Beruf, die Familie, das Reich Gottes …), der überschreitet die Grenzen, die ihm als Geschöpf nach wie vor gesetzt sind. Diese Grenzen erfordern ausreichenden Schlaf, Ruhezeiten und Gesundheitstraining. Das kann man nicht alles „im Glauben“ überspringen. Das hieße ja, dass Gott, der Neuschöpfer, dauernd die Gesetzmäßigkeiten aushebeln sollte, die er als Schöpfer gegeben hat. Und dies wiederum würde bedeuten: Gott hat die Schöpfung doch nicht so gut hinbekommen, er muss laufend nachbessern. Wollen wir so über den Schöpfer denken? – Doch wer andererseits nie etwas Großes für Gott wagt und wer meint, er sei auf seinen Ist-Zustand nun einmal festgelegt, der ignoriert das Werk Gottes als Neuschöpfer. Der lebt unterhalb der Möglichkeiten von Gottes Reich. Der verpasst alle Wachstumsziele Gottes.

Als Christen und Bibelmenschen müssen wir also jeden Bereich unseres Lebens ableuchten, wo sich Gegebenheiten der Schöpfung und Gaben der Neuschöpfung finden.

Wie erschließen wir die Bibel?

Wenn Gottes Wort oft zweigleisig angelegt ist – wie kommen wir dem nun auf die Spur? Wie können wir das ohne Theologiestudium und ohne Expertenmodus erfassen? Einige Vorschläge:

Gewöhnen wir uns konsequent die Redeweise von „Bibelversen“ ab! Die Bibel ist keine Sammlung von Einzelsprüchen. Vielmehr geht es um große Bögen. Lassen wir eine Alarmlampe aufleuchten, wo immer irgendetwas mit einem „Bibelvers“ untermauert wird.

Wir müssen uns Zeit für die Bibel nehmen. Und mit Zeit meine ich nicht 20 statt zehn Minuten am Tag oder zweimal im Monat Bibelhauskreis zusätzlich zur wöchentlichen Sonntagspredigt. Ich meine vielmehr Lebenszeit: dass wir uns langsam und stetig einlesen in die Bibel, in immer neuen Anläufen. Dass wir uns vertraut machen mit den großen Erzählbögen der Heilsgeschichte. Mit den wichtigen Personen des Alten und Neuen Testaments. Dass wir die großen Lebensthemen in Gottes Wort aufspüren und ihnen nachspüren. Bei „Zeit für die Bibel“ denke ich an Jahre und Jahrzehnte.

Wir müssen von mehreren Seiten aus Tunnel in den Berg graben. Damit meine ich: Um Klarheit über eine Frage zu bekommen, müssen wir die verschiedenartigsten Bibelabschnitte heranziehen. Wir sollten unterschiedliche Stichwörter zum Thema durchprobieren und uns von einer Konkordanz oder Online-Suche dazu jeweils Bibelstellen anzeigen lassen. Diese dann im Zusammenhang lesen. Und – ganz wichtig: dazu die biblischen Verweisstellen nachschlagen, die in guten Bibelausgaben angegeben sind. Unsere Erkundungstour muss auch über Kontrast-Begriffe laufen. Wer Gottes Wort zu „Heilung“ befragt, muss es auch auf „Krankheit“ untersuchen. Wer etwas über „Mut“ erfahren will, soll auch nach „Angst“ suchen.

Die innere Vorstellung soll eine Ellipse sein. Eine Ellipse hat ja zwei Brennpunkte, während ein Kreis nur einen hat. Ordnen wir also auf unser „inneren Tafel“ die Gedanken nicht alle um einen einzigen Mittelpunkt an, sondern gehen wir von zwei Brennpunkten aus.

„Es gibt keine einfachen Antworten“: Dieser Satz spiegelt keine
grundsätzliche Skepsis wider. Es ist nicht der Satz eines vom Leben enttäuschten und in seinen Idealen abgelöschten Menschen. Sondern es ist an vielen Stellen ein Satz, der das Wesen der Bibel widerspiegelt. Dort geht die Wahrheit auf zwei Beinen.

Hintergrund

Mehrgleisige Themen in der Bibel

  • Glaube ohne Werke / Werke nötig für den Gauben (Paulus / Jakobus)
  • Ewiges Leben zukünftig / schon jetzt beginnend
  • Geheiligtes Leben: unsere Aufgabe / das Werk Christi in uns
  • Heiliger Geist: eine Person / eine Kraft
  • Hölle: ewige Qual / komplette Auslöschung der Existenz
  • Christen sündigen nicht mehr / sind nicht ohne Sünde (1. Johannesbrief)
  • Leben in der Kraft der Auferstehung – und in der Gemeinschaft mit Christi Leiden (Philipper 3,10)
  • Wir bewirken unser Heil mit Furcht und Zittern – denn Gott ist es, der das Wollen und Vollbringen wirkt (Philipper 2,12-13)

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel und Herausgeber verschiedener Bibelausgaben. Mehr zum Thema bietet die Artikelserie von Christoph Stücklin „Einerseits und andererseits“ im Magazin „Faszination Bibel“, beginnend mit der Ausgabe 3/2023 (August).

Nächste Folge in AUFATMEN 4-23 (November):
„Biblische Theologie auf einem Bierdeckel?“:
Warum es nicht den einen einfachen Auslegungsschlüssel gibt

Die Kunst der Unterscheidung – Türöffner-Serie Teil 1

Die Kunst der Unterscheidung

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 1: TEXTE UNTERSCHEIDEN

„Was will Gott mir damit sagen?“ – Bibellesen kann ziemlich kompliziert sein. In seiner „Türöffner“-Serie erklärt Ulrich Wendel, wie man die Bibel besser versteht, auch wenn man auf sich alleine gestellt ist. Im ersten Teil geht es darum zu verstehen, dass Texte ganz unterschiedliche Absichten haben können.

Bibellesen ist manchmal wie Achterbahn fahren. Gerade noch geht es gemächlich aufwärts und ich freue mich an der Aussicht – und dann rausche ich in den Abgrund und mein Magen möchte meinen Körper verlassen. Die Bibel hält viele solcher Gefühls-Wechselbäder bereit. Nach herzerwärmenden Abschnitten kommen plötzlich Sätze, die ich überhaupt nicht verstehe. Gern würde ich einen Experten aus dem Schrank holen, der mir das jetzt erklärt.

Ein Beispiel, mitten aus der Bibel gegriffen: Der Prophet Elisa ist in Jericho und hört, dass das Wasser dort die Menschen krank macht. Er lässt sich eine Schale Salz bringen, schüttet sie in die Quelle aus – und von da an ist das Wasser gesund (2. Könige 2,19-22). Eine erfreuliche Geschichte: Gottes Leute helfen anderen, gesund zu werden. Vielleicht soll ich bei passender Gelegenheit auch so ein Mensch sein? Mir fällt ein,  dass auch meine Worte heilsam und klärend sein können: „Eure Rede sei allezeit herzgewinnend, mit Salz gewürzt; ihr müsst wissen, wie ihr einem jeden zu antworten habt“ (Kolosser 4,6).

Direkt im Anschluss aber wird berichtet, wie zwei Bengel aus einer Stadt den Propheten verspotten und ihm „Komm doch, Glatzkopf“ hinterherrufen. Elisa verflucht sie – da kommen zwei Bärinnen aus dem Wald gelaufen und töten 42 Kinder (2. Könige 2,23-25). Was soll das jetzt? Gibt es auch nur irgendeinen I-Punkt in dieser Geschichte, der mir etwas zu sagen haben soll?

Bibellesen kann eine wilde Fahrt sein – eine Fahrt, die uns immer wieder auch verstört. Und da die wenigsten von uns einen Experten im Schrank haben, den sie rausholen können, bleibt die Frage: Wie kann ich mit Gottes Wort zurechtkommen, wenn ich nichts habe als mich selbst und meine Bibel?

Für mich ist die Kunst der Unterscheidung wichtig geworden. Zwei verschiedene Arten habe ich gefunden, wie ein Bibeltext auf mich zukommt. Nachdem ich sie vorgestellt habe, fächere ich diese beiden Gruppen noch weiter in vier verschiedene Kategorien auf.

Beschreibung oder Vorgabe?

Normalerweise gibt es zwei Möglichkeiten, was ein Bibelabschnitt mir sagen will. Entweder er erzählt einfach, was damals passiert ist – oder er sagt, was nach Gottes Maßstäben passieren muss (oder hätte passieren müssen). So war es oder so soll es sein – das sind die beiden Möglichkeiten.

Für diese Unterscheidung kann man markante Begriffe prägen: Bibeltexte sind entweder beschreibend oder vorschreibend. Wer es etwas gelehrter mag: Es gibt deskriptive und präskriptive Bibelabschnitte.

Die beiden Erzählungen aus dem Leben Elisas sind beide einfach beschreibend. Dies und das hat Elisa erlebt. Der biblische Erzähler zieht daraus keine Schlussfolgerungen. Die Begebenheit mit dem heilsamen Salz könnte allenfalls noch ein Hinweis auf Gottes Macht und seinen Wunsch zu heilen sein. Die Geschichte mit den Bären ist meines Erachtens ein Beispiel für gar nichts. So ein Vorfall steht schon im Alten Testament einzigartig da und bildet einen Kontrast zu Gottes oft beschriebener Geduld. Und das Neue Testament sagt über den Umgang mit Spott sowieso ganz anderes.

Diese Unterscheidung kann uns an vielen Stellen sortieren helfen. Polygamie im Alten Testament – ja, sie kam vor. Zu bestimmten Zeiten hatten Männer, die es sich finanziell leisten konnten, mehrere Frauen  gleichzeitig. Die entsprechenden Berichte sind beschreibende Texte. Über den Schutz der Ehe lesen wir an anderen Stellen viel. Die Ehe soll nicht gebrochen werden. Frauen soll man nicht leichtfertig verstoßen und sich später nach Lust und Laune wieder zurückholen. Was hier gesagt wird, ist vorschreibend. Ein Maßstab wird vorgegeben.

Anderes Beispiel: Was soll es in der Apostelgeschichte bedeuten, dass Menschen geheilt wurden, indem der Schatten des Petrus auf sie fiel – oder nachdem man Textilien, die Paulus getragen hatte, auf sie legte  (Apostelgeschichte 5,15; 19,12)? Auch wenn so etwas damals passierte – es ist eine Beschreibung. Wir lesen deskriptive Texte. (Und in die Geschichte mit dem Schatten von Petrus sollten wir mal näher reinzoomen: Dort steht, dass die Leute die Kranken so platzierten, weil sie hofften, sie würden so gesund. Dass dies tatsächlich geschah, steht da aber nicht. Der Bericht spricht von den Erwartungen der Leute und nicht vom Handeln Gottes.)

Daneben gibt es aber Aussagen von Jesus, mit denen er die Jünger beauftragt und bevollmächtigt. Sie sollen Kranke heilen, sie sollen für sie beten, ihren die Hände auflegen. Später ordnet Jakobus an, man solle  Kranke mit Öl salben. All das sind Vorgaben, in Worte gefasst durch präskriptive Texte. Und auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der sich eines Verletzten erbarmte und gängige medizinische Mittel anwandte, ist präskriptiv zu verstehen: „Geh hin und handle ebenso“ (Lukas 10,37).

Für mich folgt daraus erst einmal eine Gelassenheit beim Bibellesen. Ich muss mich nicht immer aufregen, wenn ich von schrägem oder grenzüberschreitendem Verhalten lese. So sind wir Menschen doch nun einmal. Manchmal kommen unsere schlechtesten Möglichkeiten zum Vorschein. Mit Gott muss das nicht in jedem Fall etwas zu tun haben. Dass die Bibel nicht jedes Mal ein schlechtes Verhalten negativ bewertet, sondern einfach so stehen lässt – das gehört zu den Dingen, die sie ihren Leserinnen und Lesern zumutet.

Für die beiden beschriebenen Möglichkeiten habe ich noch eine weitere Bezeichnung gelernt: Texte können entweder Wirklichkeit spiegeln oder Wirklichkeit stiften. So formulierte es mein leider sehr früh verstorbener Doktorvater in einem Seminar.

Wirklichkeit spiegeln bedeutet: Die Texte zeigen deutlich die Spuren des kulturellen Umfeldes und der menschlichen Erfahrung. Ich finde, damit passiert schon etwas Großartiges. Beim Lesen merken wir: Was ich in meinem Leben erlebe und auch erleide, kommt in der Bibel vor. Es ist gewürdigt, als Erfahrung seinen Platz in Gottes Wort zu haben.

Wirklichkeit stiften heißt: Die Bibeltexte bringen eine neue Dimension ein, die über das bloß Menschliche hinausgeht. Gottes Wirklichkeit kommt zur Sprache – und die verändert unsere Wirklichkeit.

Eine Skala mit vier Einheiten

Statt in zwei große Kategorien kann man Bibeltexte auch noch differenzierter einteilen, und zwar in vier Gruppen. Folgendes kann ein Bibelabschnitt sein:

• ein Bericht
• ein Bekenntnis
• eine Verheißung
• ein Auftrag.

Je weiter man nach „unten“ in dieser Skala kommt, desto verbindlicher wird das in diesem Text Gesagte.

Berichte entsprechen meist den beschreibenden Texten, wie eben entfaltet. Es gibt aber auch Berichte, die Gottes Handeln bezeugen wollen. Sie haben schon eher allgemeine Bedeutung. Sie „stiften“ auch Wirklichkeit, denn sie zeigen, was Gott konnte, was er wollte – und was er vielleicht auch heute noch kann und will.

Bekenntnisse zielen noch mehr aufs Allgemeingültige. Sie sprechen nicht nur von Gottes Taten, sondern leiten daraus Einsichten über sein Wesen ab. In vielen Psalmen lesen wir beides ineinander geflochten: wie Gott an einem Einzelnen handelte und wie er dadurch charakterisiert ist. Wie können wir ermessen, ob Gott tatsächlich auch für andere so ist oder ob wir nur einen Einzelfall vor uns haben? Indem wir die Bekenntnisse mit anderen Schriftstellen vergleichen. Oft wird ein Bekenntnis nämlich von weiteren Stellen bestätigt. (Die Verweisstellen in vielen Bibelausgaben sind hier eine gute Hilfe. Damit sind wir noch nicht im Expertenmodus, sondern können allein mit unserer eigenen aufgeschlagenen Bibel weiterkommen.)

Mit einer Verheißung hat Gott sich noch mehr festgelegt – und uns damit festen Boden gegeben, auf dem wir stehen können. Dennoch müssen wir auch an dieser Stelle unterscheiden: Gilt ein Versprechen zunächst nur einem Einzelnen? Oder Israel, dem Volk Gottes? Oder tatsächlich allen Menschen? Allen Menschen gilt z. B. die Beschreibung der Zuwendung Gottes, wie Paulus sie in Athen predigt (Apostelgeschichte 7,25). Allen Menschen gilt auch das Versprechen: „Siehe! Er kommt mit den Wolken des Himmels. Und alle werden ihn sehen – sogar die, die ihn durchbohrt haben. Und alle Völker der Erde werden um ihn trauern“ (Offenbarung 1,7). Doch auch Verheißungen mit einer enger gefassten Zielgruppe können uns Christen gelten: entweder weil sie Grundsätzliches über das Herz Gottes sagen – und Gott hat diese Herzenseinstellung speziell seinem Volk Israel gezeigt, hat sich aber uns gegenüber nicht grundlegend verändert. Oder eine Verheißung gilt uns Jesusleuten, weil wir in Gottes erweitertes Volk hineingenommen sind. Auf dieser Basis haben Verheißungen eine große Verbindlichkeit für uns.

Bei einem Auftrag schließlich ist die Relevanz am höchsten. Ein Auftrag sagt uns nicht nur, was wir erhoffen können, sondern was wir tun sollen. Die Unterscheidung zwischen Auftrag und Verheißung war schon für Jesus wichtig. In der Wüste wurde er mit der Verheißung konfrontiert, dass Gottes Engel ihn auf den Händen tragen würden. Sein Auftrag war allerdings nicht, das auszutesten und von der obersten Mauer des Tempels zu springen – sondern sein Auftrag war, Gott nicht herauszufordern (Matthäus 4,5-7). Viele Aufträge sind sehr klar für uns formuliert. „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus“ (Jesaja 58,7) – daran gibt es wenig zu deuteln.

Die Skala von „Bericht“ bis „Auftrag“ hilft uns zu erkennen, wie ein Bibeltext auf uns zukommt und was er in uns auslösen will. Je mehr wir uns in die Kunst der Unterscheidung einüben, desto klarer kommen wir Gottes Wort auf die Spur.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel und im Verlag SCM R.Brockhaus verantwortlich für die Konzeption komplexer Bibelausgaben. Das Thema der Verheißungen hat er entfaltet in: „Das Buch der Versprechen. Die Bibel mit allen Verheißungen Gottes für dich“.

Nächste Folge in AUFATMEN 3-23 (August):
„Die Wahrheit geht auf zwei Beinen“:
Dr. Ulrich Wendel über die Tatsache, dass die Bibel oft „einerseits – andererseits“ sagt.

Die AUFATMEN-Challenge: Ein Tag ohne Urteil

Die AUFATMEN-Challenge: Ein Tag ohne Urteil

Eine Einladung ins Trainingslager für Neuanfänge:Veränderung in kleinen Schritten angehen.

Von Martin Gundlach

Vor genau einem Jahr, an Himmelfahrt 2022, begann eine Frage an mir zu nagen: Martin, würdest du es schaffen, zwei oder drei der Live-Gottesdienste, die heute gestreamt werden, anzusehen – ohne in Gedanken irgendetwas zu kritisieren? Ohne Verbesserungsvorschläge vor dich hin zu murmeln und innerlich den Kopf zu schütteln? Es ärgerte mich schon eine ganze Weile, dass sich in mir so schnell Kritik leise oder laut breit machte.

Es wird dir doch gelingen, dich einfach ein paar Stunden daran zu freuen, dass das Wort Gottes in die Welt hinausgeht, dass gesungen wird, gebetet, gepredigt – und das auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Das ist doch gut, oder?

Ich hatte Glück: Das Christival wurde bei Bibel-TV übertragen, der Katholikentag bei den Öffentlich-Rechtlichen und jede Menge Futter in den Livestreams bei YouTube. Also hab ich einfach mal mit besten Vorsätzen zwei, drei Stunden gezappt. Bin mal zwanzig Minuten beim Katholikentag eingetaucht, dann bei den Jugendlichen vom Christival. Und zwischendurch einfach mal fröhlich durch die digitale Christenheit: freikirchliche Gottesdienste hier und eine Messe in Österreich dort.

Ehrlich gesagt: Ich war von mir selbst enttäuscht. Es fiel mir so schwer, ein paar Stunden nur auf das Gute zu sehen. Der Kritiker in mir war kaum zum Schweigen zu bringen: „Ist das Weihrauchschwenken nicht unendlich weit von unserer Wirklichkeit entfernt?“ „Ist die Bühnenshow nicht eine Performance wie jede andere?“ „Wer versteht eigentlich diese Sprache?“ „Wie echt ist das denn alles?“ …

Anstatt zu feiern, dass so viele Menschen sich einbringen und engagieren, fielen mir Dinge auf, die man „besser machen könnte“. Statt der Freude, dass Gottes Wort hierzulande in aller Freiheit verkündet werden kann, machte sich Unmut breit über die Anteile, die „nicht zeitgemäß sind“ oder „zu schwer zu verstehen“ oder auf der anderen Seite „zu stark vereinfacht“. Ich kam mir manchmal vor wie einer der beiden Alten in der Muppet Show, die oben auf dem Balkon sitzen und leise vor sich hin mäkeln. Die Älteren erinnern sich …

Erst einmal applaudieren

Also habe ich mir diese Challenge regelmäßig verschrieben. Ich nenne sie „Ein Tag ohne Urteil“, tatsächlich ist sie meistens kürzer. Sie kann an ganz unterschiedlichen Orten stattfinden: einen Nachmittag im Verlag, einen Gottesdienst lang in unserer Gemeinde in Witten, eine Hunderunde inklusive der Begegnungen, die dort stattfinden: nur das Gute sehen und meine Umgebung anfeuern, aufbauen, gut über sie denken und gut von ihr sprechen. Über die vermeintlichen Fehler ein paar Stunden lang einfach hinwegsehen. Niemanden beurteilen oder gar verurteilen.

Ich gewinne Spaß an dieser Übung. Ich merke, wie diese Zeiten mich verändern. Ich bin unterwegs in eine Richtung, die mir gefällt. Nicht ohne Rückfälle, aber ich habe das Gefühl: Die Richtung stimmt …

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich darf auch Kritik sein. Muss auch Kritik sein. Aber ich möchte die Kritik im Griff haben – und nicht umgekehrt erleben, wie sie über mich kommt. Ich möchte lernen, erst einmal das Gute zu sehen – und nicht sofort zu bewerten und mein Urteil zu fällen. Sondern erst einmal hingucken, verstehen, das Engagement wertschätzen und fröhlich applaudieren.

Leicht fiel mir dieser Applaus bei dem Gottesdienst, den unsere Jugendlichen gestaltet haben. Ich kenne die meisten der handelnden Personen von klein auf, ich mag sie und freue mich dran, dass sie so engagiert bei der Sache sind. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn irgendwas nicht klappt und der Redefluss mal versiegt, ein schiefer Akkord zu hören ist oder Vokabeln benutzt werden, die normalerweise im Gottesdienst nicht verwendet werden. Ich merke, was für einen Unterschied es macht, wenn da eine Beziehung ist, ein Vertrauensvorschuss für sie. Ich kenne die doch. Ich weiß, sie geben das Beste, was sie haben. Und das reicht …

Die Challenge

Ich möchte euch einladen, diesen Weg zu beschreiten. Einladen zur AUFATMEN-Challenge „Ein Tag ohne Urteil“. Oder drei Stunden ohne Urteil. Oder ein Gottesdienst ohne Urteil („Warum kommen die eigentlich zu spät, die haben doch keine kleinen Kinder mehr?“). Ein Elternsprechtag ohne Augenverdrehen über Vielredner oder Dauerschweiger. Einen Tag lang Social- Media-Kommentare, die nur positiv
sind. Eine Team-Besprechung ohne die lang eingeübten Machtspiele.

Definiert eure eigene Challenge. Die Möglichkeiten sind viele, nennt es wie ihr es wollt. Es geht nicht um naives oder einfältiges Ja-Sagen. Sondern um eine Übung, eine geistliche Übung: zunächst einmal das Gute sehen und das Gute anfeuern. Wie oft finden wir im Neuen Testament die Momente, in denen Jesus durch seinen barmherzigen Blick auf die Menschen alle Umstehenden komplett überrascht hat.

Übung geht nur mit Üben. Macht die Hürde nicht zu hoch und das Vorhaben lieber erst mal nicht zu umfangreich. Mir hat es geholfen, das Projekt auch ein bisschen spielerisch-sportlich zu sehen. Am Ende könnte es ein Neuanfang sein, weil unser Blick und unser Denken sich wirklich verändert haben.

Und ich bitte euch: Schreibt eure Erfahrungen, Erfolge und Rückschläge an uns. Eure kleinen ersten Schritte genauso wie das  lebensverändernde Aha-Erlebnis.

Ich würde mich riesig freuen, in einer der nächsten Ausgaben ein paar Erfahrungsberichte zu teilen. Ich rechne fest mit euch!

Martin Gundlach ist Redaktionsleiter von AUFATMEN. Rückmeldungen aller Art gerne an info@aufatmen.de.

 

Ohne Urteilen – die Challenge kompakt

1. Aufgabe formulieren
(z. B. ein Mitarbeitertreffen ohne herablassenden Gedanken und inneres Augenverdrehen)

2. Zeitraum festlegen
(z. B. Mittwoch 18-20 Uhr)

3. Challenge durchführen
und sich dabei selbst beobachten

4. Danach: Welche Gedanken und Gefühle haben sich breit gemacht?
Ergebnisse z.B. in einem Heft sichern

5. Ein paar Sätze zu dieser Erfahrung…
an die AUFATMEN-Redaktion schreiben: info@aufatmen.de.
Oder mit anderen ins Gespräch dazu kommen.

Ehrenkodex – Unser Umgang miteinander am Runden Tisch

Ehrenkodex – Unser Umgang miteinander am Runden Tisch

Ulrich Eggers war zu Gast beim „Runden Tisch Österreich“ und berichtet in AUFATMEN 3-23, warum im gemeinsamen Handeln der Ausweg für theologischen Streit liegt. Hier findet ihr den gesamten Ehrencodex für das Miteinander am „Runden Tisch“.

  1. Wir glauben einander den Glauben

1.1     Wir gehen davon aus, dass jeder Teilnehmer am Runden Tisch ein echter Christ ist. Wir tun dies auch dann, wenn es zwischen manchen von uns schwerwiegende und leidenschaftlich vertretene Meinungsverschiedenheiten gibt.

1.2     Wir gestehen einander zu, Gott zu lieben, ihm und einander nach bestem Wissen und Gewissen dienen zu wollen. Wir glauben einander, dass es die Absicht eines jeden von uns ist, seine eigene Beziehung zu Jesus Christus zu vertiefen und andere zu Christus zu führen, dass wir uns alle nach dem Reich Gottes sehnen und danach, dass Gottes Wille geschieht, hier auf Erden so wie im Himmel.

1.3     Weil wir überzeugt sind, dass wir alle Kinder Gottes sind, mit aufrichtigen, biblischen Glaubensüberzeugungen, wollen wir einander kennen und verstehen lernen.

1.4     Wir stehen zueinander und bekennen uns zueinander auch in der Öffentlichkeit. Alle sollen wissen, wer unsere Freunde als Glieder ihrer jeweiligen Kirchen sind. Wir verleugnen unsere Freunde selbst dann nicht, wenn uns diese Identifikation mit ihnen schaden sollte.

1.5     Wir werden die anderen nicht als Proselyten in unsere Glaubensgemeinschaft zu ziehen versuchen oder sie anders von ihrer Herkunftskirche entfremden.

1.6     Wir sprechen anderen, mit deren Umgang wir uns leicht tun, nicht ihre echte und vollgültige Mitgliedschaft in ihrer Herkunftskirche ab (z.B.: „Wenn einer so denkt, kann er kein wirklicher Katholik sein!“).

 

  1. Einheit in der Verschiedenheit

2.1     Wir akzeptieren, dass die verschiedenen Teilnehmer am Runden Tisch unterschiedliche Prägungen, Erkenntnisse und Überzeugungen im Glauben mitbringen.

2.2     Wir schätzen deren Identifikation mit der eigenen Glaubensgemeinschaft sowie die damit einhergehenden tiefen Glaubensüberzeugungen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass wir „Einheit in Vielfalt“ leben können.

2.3     Wenn wir Meinungsverschiedenheiten austragen, versuchen wir die Hintergründe der Unterschiede sowie der „anderen“ Glaubensüberzeugungen zu verstehen, in geschwisterlicher Liebe zu respektieren und auch schwer Annehmbares zunächst stehen zu lassen.

2.4     Wir wissen, dass unser eigenes Begreifen, Erkennen und Verstehen nur Stückwerk ist. Wir wissen, dass auch das Erkennen und Verstehen unserer Herkunftskonfession nur Stückwerk ist und dass folglich vieles in unserer eigenen Glaubensgemeinschaft unvollkommen ist.

2.5     Wir wissen, dass keine christliche Tradition frei von den Auswirkungen menschlicher Sünde ist, auch nicht unsere eigene. So ist es wahrscheinlich, dass es auch in unserer Herkunftskirche irrtümliche Auffassungen gibt. Dieses Wissen macht uns demütig und bereit diese Sünden der Kirchengeschichte zu benennen und zu bekennen.

2.6     Es ist umso wahrscheinlicher, dass die historisch gewachsenen und uns liebgewonnenen Meinungen der eigenen Herkunftskirche über die anderen christlichen Traditionen Missverständnisse, ja sogar Irrtümer enthalten.

2.7     Wir sehen und betonen in allen Begegnungen das Gemeinsame.

2.8     Wir schaffen ein Klima der Offenheit, in dem wir voreinander echt und ehrlich sein können, voneinander lernen und in unserem gegenseitigen Verständnis wachsen können.

2.9     Wir lösen uns von einem defensiven Gesprächsmuster. Wir wollen die kritischen Fragen der Brüder und Schwestern nicht länger als Angriff interpretieren, sondern als den ehrlichen Versuch zu verstehen.

 

  1. Zur Sprache und Gesprächskultur

3.1     Wir begegnen einander in jeder Gesprächssituation mit Respekt, Achtung und Wertschätzung und drücken das auch durch aktives Zuhören und in der konkreten Wahl der Worte aus.

3.2     Wir wollen die kulturelle „Sprache“ der anderen christlichen Tradition verstehen lernen, um die unterschiedlichen Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen nicht falsch zu interpretieren.

3.3     Wir bemühen uns in jedem Gespräch, auch im theologischen Diskurs, Formulierungen zu verwenden, die der andere bestmöglich verstehen kann.

3.4     Um Missverständnisse zu vermeiden, benützen wir Kommunikationstechniken wie  „Ich-Botschaften“, das „Spiegeln“ der Aussagen des anderen und anderes mehr.

 

  1. Vom Konflikt zur Gemeinschaft

4.1     Wir glauben, dass alle an diesem Prozess mit redlichen Motiven und aufrichtiger Motivation beteiligt sind.

4.2     Wir bemühen uns um Einigung und Einheit, ohne dass dies immer auch zu einem „gemeinsamen Nenner“ führen wird.

4.3     Unsere Diskussionen über kontroverse Themen dienen in erster Linie dazu, dass wir immer besser verstehen, was die anderen glauben, und warum sie es glauben. Andere Diskussionsziele wie das Erreichen eines „gemeinsamen Nenners“ sowie der Versuch, die anderen von unserer eigenen Positionen zu überzeugen, sind nachrangig.

4.4     Wir vermeiden polemische und polarisierende Formulierungen. Diese erschweren eine faire und objektive Diskussion. Es gilt, auf apodiktische Urteile zu verzichten (z.B.: „Dein Standpunkt ist unbiblisch!“), um stattdessen vorsichtige Verbesserungsvorschläge zu machen (z.B.: „Mir scheint, dass deine Behauptung im Widerspruch zur biblischen Aussage in XYZ steht“). Anstelle einer Festlegung (z.B.: „Unsere Position ist biblisch!“) sollte besser die subjektive Beurteilung ausgesprochen werden (z.B.: „Nach unserem Verständnis entspricht das eher dem biblischen Text“).

4.5     Wir sind bereit, von den anderen etwas Neues zu lernen. Wenn wir etwas Neues erkannt haben, wollen wir das auch den anderen gegenüber eingestehen (z.B.: „Das war mir neu“). Dadurch schaffen wir ein Klima der gegenseitigen Offenheit und Lernbereitschaft.

4.6     Wenn wir glauben, der Aussage eines anderen widersprechen zu müssen, wäre es hilfreich, zuerst zu wiederholen, was dieser gesagt hat. So wollen wir sichergehen, dass wir die Aussage richtig verstanden haben: „Wenn ich dich recht verstehe, dann meinst du, dass …“. Damit vermeiden wir ein Missverständnis. Gleichzeitig ist es sehr hilfreich, jene Teile der  Aussage des anderen, denen wir zustimmen können, positiv zu unterstreichen. So vermitteln wir unseren Gesprächspartnern, dass wir ernsthaft versuchen zu verstehen.

4.7     Aufeinander zuzugehen ist wie die Begegnung verschiedenartiger Kulturen. Wir müssen zuerst die theologische und kulturelle Sprache der anderen erlernen und verstehen. Viele religiöse Begriffe haben unterschiedliche Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen in den verschiedenen Traditionen. Begriffe wie „Bekehrung“, „gerettet werden“, „Kirche“, „Seelsorge“, „Anbetung“, „Tradition“, „Wort Gottes“ sind ganz unterschiedlich besetzt und dementsprechend belastet. Wenn wir also diese Begriffe zur Darlegung unserer Standpunkte benützen, wollen wir ihren Inhalt für unsere Gesprächspartner ausdeuten oder mit unbelasteten Vokabeln „übersetzen“.

4.8     Wir legen die Haltung ab, etwas als „irrend“ zu verdächtigen, nur weil wir eine Lehraussage nicht sofort in ihrem Gehalt verstehen bzw. in das eigene theologische System einordnen können.

4.9     Das Prinzip des „grünen Wassers“: Wenn jemand kurz vor dem Verdursten ist, wird er auch das grünliche Wasser trinken, wenn es ihm nur Hoffnung gibt, dass es weiter geht. Er wird möglicherweise fragen, „Was ist das?“. Aber weil er die Flüssigkeit braucht, ist er bereit, auch grünliches Wasser zu trinken. Jemand ohne dieses Bedürfnis wird hundert Gründe finden, um nicht trinken zu müssen. So ist es mit uns. Nur wenn wir an der Zerrissenheit des Leibes so sehr leiden, dass wir lieber einige Unklarheiten im Miteinander in Kauf nehmen, um nur ja Schritte in Richtung Einheit weiterzukommen, dann werden wir bereit sein, so manches an „grünem Wasser“ in Sachen Theologie und Christenpraxis zu schlucken, auch wenn sich nicht alles perfekt darstellt.

Wenn wir den anderen christlichen Traditionen begegnen, wird uns vieles wie grünes Wasser vorkommen. Wir müssen Fragen stellen und sollen nicht sofort alles schlucken. Wenn wir aber ein Herz für die Einheit haben, dann werden wir bereit sein, so weit wie möglich zu gehen, um das Gemeinsame zu sehen und zu einer Einigung zu kommen. Dieses Verlangen wird auch die Art der Fragen prägen, die wir den anderen stellen: nicht vom Wunsch geleitet, unsere Distanz aufrechtzuerhalten, sondern gute Gründe zu finden, um weiterzumachen.

4.10   Wir wollen hinter dem Unverständlichen zunächst eher die Chance eines Schatzes sehen, als zuerst die Gefahr des Irrtums.