Die Wahrheit geht auf zwei Beinen – Türöffner-Serie Teil 2

Die Wahrheit geht auf zwei Beinen

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 2: DIE UNTERSCHIEDLICHEN LINIEN ENTDECKEN

Widerspricht sich die Bibel? Oder wie sind gegensätzliche Stellen zu deuten? Ulrich Wendel geht der Frage nach, warum die Bibel nicht immer einfache Antworten gibt. An drei Beispielen macht er das deutlich.

Um eine Sache zu erklären, muss man sie zunächst einfach machen. Das scheint mir das A und O aller Pädagogik zu sein. Als meine Kinder im Grundschulalter begannen, mir tiefere Frage über das Leben und über Gott zu stellen, da war mir klar: Jetzt kann ich nicht weit ausholen und sagen, das sei komplex und es käme darauf an … Ich musste auf den Punkt kommen. Eine heilsame Übung für mich.

Auch die ersten Lektionen für frischgebackene Christinnen und Christen sind meist einfach. In den Neuen Testamenten des „Gideon-Bundes“ zum Beispiel finden sich kurze thematische Übersichten unter der Überschrift „Wo finde ich Hilfe?“. Für jedes Thema werden ein paar Bibelstellen genannt. Frage und Antwort – fertig. Und das ist auch legitim. Fragen auf das Elementare herunterzubrechen ist eine große Kunst.

Und am Ende eines reifen Lebens, so stelle ich es mir vor, hat man vielleicht zurückgefunden zu einer weisen, reflektierten Einfachheit. Zu den großen Fragen des Lebens kann man wohlabgewogene, vom Wetter der Lebenserfahrung gegerbte und bewährte Sätze sprechen. Hoffentlich.

Simple Antworten zerbröseln

Doch in der langen Zwischenzeit spannt sich meist eine Phase aus, in der wir nicht mehr (oder noch nicht) mit einfachen Sätzen auskommen. Die simplen Antworten zerbröseln schnell, wenn man genauer hinschaut. Und mit den Antworten der Bibel ist es ebenso. Wo am Anfang wenige Schriftstellen genügten, tut sich bald ein weites Feld an verschiedenen Zusammenhängen auf.

Woran liegt das? Ist es nur unser Leben im 21. Jahrhundert, das so kompliziert ist? Liegt es am ur-menschlichen Hang zu zweifeln und zu hinterfragen? Ist Gottes Wort vielleicht klar, deutlich und geradlinig – und nur wir Menschen mit unserem verkrümmten Herzen kommen damit nicht zurecht?

Ich glaube, es liegt nicht einfach an unserer Unzulänglichkeit als Glaubende und Bibelleser. Ich meine vielmehr, die Bibel selbst ist so angelegt, dass sie sich einfachen Antworten entzieht, wenn es um die großen Fragen des Lebens geht. Gott hat sein Wort so gestaltet, dass es mehrgleisig läuft. Die Wahrheit geht oft auf zwei Beinen. Und wenn wir das dann vereinfachen wollen – dann hinkt die Sache.

Die Kirche ist sich bald darüber klar geworden, dass Gottes Wahrheit so angelegt ist. Klassisches Beispiel: die Lehre von Christus. Jesus Christus kann nur in paradoxen Sätzen beschrieben werden; er ist wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Beides zu 100 Prozent. Wenn man eine Seite ausblenden oder für weniger bedeutend erklären wollte, dann wäre die ganze Fülle von Jesus zerstört. Festgehalten wurde diese Einsicht 451 n. Chr. auf dem Konzil von Chalcedon. Sie ist ein Ergebnis nachträglicher Reflexion über die Bibel. Doch auch in der Bibel selbst lässt sich vielfach beobachten, dass wichtige Themen mehrgleisig angelegt sind. Das möchte ich an einigen Beispielen zeigen.

Die Welt: Feindesland oder Arbeitsplatz?

Wie sollen wir als Jesusleute der Welt gegenüberstehen, in der wir leben? Frühere Generationen hatten eine klare Antwort: Die Welt ist böse, sie „liegt im Argen“ und daher muss man sich von ihr fernhalten. Dafür gibt es starke Unterstützung durch die Bibel: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist! Wenn jemand die Welt liebt, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm“ (1Johannes 2,15). Die Welt ist vergänglich, ebenso die Begierden, mit denen sie angefüllt ist. Und ist nicht der Teufel der „Fürst dieser Welt“?

Das resultierende Verhalten war klar: Zieht nicht an einem Strang mit den Ungläubigen (nach 2. Korinther 6,14)! Christinnen und Christen, die so geprägt sind, lassen sich nicht auf die Kultur ihrer Umgebung ein, sondern schaffen innerhalb ihrer Gemeinden lieber eine eigene Kultur. Bei manchen ging das früher so weit, dass sie nicht an politischen Wahlen teilnahmen. Man kann diese Haltung deutlich mit einer Vielzahl an Bibelstellen untermauern. „Eindeutig biblisch“ also – oder nicht?

Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich große Augen bekam, als ein Dozent in einer Bibelarbeit mit uns das Gebet von Jesus in Johannes 17 durchging. Da findet sich die klassische Formulierung über die Jünger: „Sie sind nicht von der Welt“. Jesus betet im Anschluss daran, dass Gott seine Jünger „heiligt“. Doch an was für eine Heiligung denkt Jesus dabei? „Ich habe sie in die Welt gesandt“, ist sein nächster Satz (V. 14-18)! Das ist das exakte Gegenteil von Welt-Distanz. Wenn Jesusleute heilig leben, gehen sie auf die Welt zu und nicht von der Welt weg. Und dabei sind sie – nach Jesus – gerade nicht zu andauernden Kompromissen gezwungen, sondern so leben sie als Geheiligte. Bewahrt vor dem Bösen, aber nicht der Welt entnommen (V. 15).

Es ist klar, dass ein Leben unter diesem Vorzeichen anders aussieht. Desinteresse an Kultur oder Politik wäre unter dem Niveau, das Jesus vorgibt. Ebenso das Desinteresse an all den Umständen, die jeden Menschen zu dem machen, der er geworden ist – also alle Einflüsse, die eine Biografie ausmachen, einschließlich psychologischer Zusammenhänge und all der Brüche in einem Menschenleben. All das ist „Welt“. Ganz entsprechend sagt auch Paulus, dass man sich gerade nicht von den „Ungläubigen“ distanzieren solle – „sonst müsstet ihr ja die Welt räumen“ (1. Korinther 5,10).

Und was ist mit dem bösen Charakter dieser Welt? Stimmen die Bibelverse denn nicht mehr, die man früher zitierte? Doch, klar. Aber sie markieren nur die eine Spur. Gottes Wort ist allerdings oft zweispurig aufgestellt.

Der Verstand: Rebell oder ein Instrument für Gott?

Ein anderes Beispiel: Wie vertrauenswürdig ist eigentlich der menschliche Verstand, wenn es um Gottes Dimension geht? Einerseits ist seine Rolle nach der Bibel sehr begrenzt. Man kann Gott nicht mit dem Verstand erkennen und den Weg zu ihm nicht allein durch Nachdenken finden. Auch sich selbst kann der Mensch nicht auf rationalem Wege erkennen und so nicht erfassen, wie er im tiefsten Wesen ist. Das zweite Kapitel des 1. Korintherbriefs ist ein Abgesang auf die menschliche Weisheit. Also: „Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen und stütze dich nicht auf deinen Verstand!“ (Sprüche 3,5).

Aber auch hier gilt: Damit ist noch nicht alles gesagt. Geistige Schlichtheit, intellektuelle Anspruchslosigkeit ist kein erstrebenswertes Ziel in Gottes Wort. „Sei nicht wie ein unvernünftiges Pferd oder ein Maultier, das Gebiss und Zaumzeug braucht, damit es folgt“ (Psalm 32,9). Diese Mahnung schließt unmittelbar an eine Verheißung an, dass Gott den Weg weisen möchte und dass sein Auge auf uns ruht (V. 8). Leitung durch Gott ersetzt also nicht den Verstand, sondern erfordert ihn geradezu. Wie bemerkenswert, dass Paulus genau denselben Zusammenhang benennt. In 1. Korinther 14 befasst er sich ausgiebig mit Geistesgaben wie Prophetie und Sprachengebet – beides also Wirklichkeiten, die rational nicht zu entschlüsseln sind. Die Wirkung von Gottes Geist geht weit über menschliches Denken hinaus. Doch mitten in diesem Kapitel ruft er aus: „Brüder, seid nicht Kinder am Verstand, sondern an der Bosheit seid Unmündige, am Verstand aber seid
Erwachsene!“ (V. 20).

Wir ahnen, warum dies kein Widerspruch zu den Grenzen der menschlichen Weisheit ist. Es gibt einen gott-fernen Verstand und ein mit Gott versöhntes und durch den Geist erneuertes Denken. Wenn das aber so ist, dann verbieten sich alle eindimensionalen Beschreibungen. Vollends gelöst ist der Widerspruch bei Jesus. Bei ihm ist der Verstand – neben dem Herz und der Seele – ein Instrument, um Gott zu lieben (Matthäus 22,37). Er zitiert hier das Alte Testament und betont aus dem umfassenden hebräischen Wort „Kraft“ (5. Mose 6,5) besonders den Verstandesaspekt.

Das waren zwei Beispiele, die nicht unbedingt zur Mitte der biblischen Theologie gehören. Sie sind aber eine gute Einübung in biblisches Denken; sie zeigen den Grundsatz auf – nämlich die Zweigleisigkeit der Bibel in vielen Bereichen. Und es wird klar, dass es starke Auswirkungen auf das eigene Leben hat, je nachdem, ob man eindimensional denkt oder der Wahrheit folgt, die auf zwei Beinen geht. Weit grundlegender ist das nächste Beispiel:

Schöpfung und Neuschöpfung

Als Jesusleute finden wir uns vor in der Spannung zwischen Schöpfung und Neuschöpfung. Beide Dimensionen bestimmen unsere Leben.

Schöpfung: Wir sind – auch als erlöste und durch Christus erneuerte Menschen – zunächst einmal ganz schlicht Geschöpfe. Wir sind den Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung nicht entnommen, z.B. dem gott-gegebenen Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Wir tragen die Mühe einer Schöpfung, die von Gott entfremdet ist und deren ursprünglicher Zustand zerbrochen ist. Wir leben wie jeder andere Mensch auch unter dem Vorzeichen, dass unser „Ackerfeld“ voller Dornen und Disteln ist, dass wir unser Brot im Schweiße unseres Angesichts essen müssen und dass unsere Beschwerden zahlreich sind (1. Mose 3,16-19). Auch als Jesusleute seufzen wir noch mit der Schöpfung und warten auf die Erlösung (Römer 8,19-23).

Neuschöpfung: Seit wir durch Christus mit Gott versöhnt sind, hat sich etwas Entscheidendes getan. Wir sind neugeschaffen worden, sagt Paulus (2. Korinther 5). In der Ausdrucksweise von Johannes: Wir sind von oben her geboren worden (Johannes 3). Damit ist eine neue Dimension in unser Leben gekommen, uns stehen andere Möglichkeiten offen.

Krankheiten müssen nicht allein durch Ärzte kuriert werden, sondern können durch Jesus geheilt werden. Unsere großen und kleinen Egoismen müssen nicht durch Willenskraft überwunden werden, sondern Gottes Geist nimmt Einfluss auf unser Wollen und Können. Unsere Zuwendung zu anderen ist nicht durch die Grenzen von Sympathie und Antipathie definiert, sondern selbstlose Nächstenliebe entsteht in uns. Wir wachsen also über unsere Möglichkeiten hinaus.

Doch wir müssen festhalten: Es sind beide Ebenen, die uns prägen. Einerseits die Schöpfung – die ursprünglich gemeinte und die gebrochene. Und andererseits die Neuschöpfung. Die Spannung zwischen beiden wird zeitlebens bestehen bleiben und wir dürfen sie nicht einseitig auflösen. Wer behauptet, Christen würden kein Leid mehr erfahren, nimmt die Dimension der Schöpfung nicht ernst. Wer meint, die Gemeinde von Jesus könne heute nicht mehr mit Wundern rechnen, hat die Dimension der Neuschöpfung vergessen.

Oder auf den Alltag angewandt: Wer sich ständig in bester Absicht völlig verausgabt (für den Beruf, die Familie, das Reich Gottes …), der überschreitet die Grenzen, die ihm als Geschöpf nach wie vor gesetzt sind. Diese Grenzen erfordern ausreichenden Schlaf, Ruhezeiten und Gesundheitstraining. Das kann man nicht alles „im Glauben“ überspringen. Das hieße ja, dass Gott, der Neuschöpfer, dauernd die Gesetzmäßigkeiten aushebeln sollte, die er als Schöpfer gegeben hat. Und dies wiederum würde bedeuten: Gott hat die Schöpfung doch nicht so gut hinbekommen, er muss laufend nachbessern. Wollen wir so über den Schöpfer denken? – Doch wer andererseits nie etwas Großes für Gott wagt und wer meint, er sei auf seinen Ist-Zustand nun einmal festgelegt, der ignoriert das Werk Gottes als Neuschöpfer. Der lebt unterhalb der Möglichkeiten von Gottes Reich. Der verpasst alle Wachstumsziele Gottes.

Als Christen und Bibelmenschen müssen wir also jeden Bereich unseres Lebens ableuchten, wo sich Gegebenheiten der Schöpfung und Gaben der Neuschöpfung finden.

Wie erschließen wir die Bibel?

Wenn Gottes Wort oft zweigleisig angelegt ist – wie kommen wir dem nun auf die Spur? Wie können wir das ohne Theologiestudium und ohne Expertenmodus erfassen? Einige Vorschläge:

Gewöhnen wir uns konsequent die Redeweise von „Bibelversen“ ab! Die Bibel ist keine Sammlung von Einzelsprüchen. Vielmehr geht es um große Bögen. Lassen wir eine Alarmlampe aufleuchten, wo immer irgendetwas mit einem „Bibelvers“ untermauert wird.

Wir müssen uns Zeit für die Bibel nehmen. Und mit Zeit meine ich nicht 20 statt zehn Minuten am Tag oder zweimal im Monat Bibelhauskreis zusätzlich zur wöchentlichen Sonntagspredigt. Ich meine vielmehr Lebenszeit: dass wir uns langsam und stetig einlesen in die Bibel, in immer neuen Anläufen. Dass wir uns vertraut machen mit den großen Erzählbögen der Heilsgeschichte. Mit den wichtigen Personen des Alten und Neuen Testaments. Dass wir die großen Lebensthemen in Gottes Wort aufspüren und ihnen nachspüren. Bei „Zeit für die Bibel“ denke ich an Jahre und Jahrzehnte.

Wir müssen von mehreren Seiten aus Tunnel in den Berg graben. Damit meine ich: Um Klarheit über eine Frage zu bekommen, müssen wir die verschiedenartigsten Bibelabschnitte heranziehen. Wir sollten unterschiedliche Stichwörter zum Thema durchprobieren und uns von einer Konkordanz oder Online-Suche dazu jeweils Bibelstellen anzeigen lassen. Diese dann im Zusammenhang lesen. Und – ganz wichtig: dazu die biblischen Verweisstellen nachschlagen, die in guten Bibelausgaben angegeben sind. Unsere Erkundungstour muss auch über Kontrast-Begriffe laufen. Wer Gottes Wort zu „Heilung“ befragt, muss es auch auf „Krankheit“ untersuchen. Wer etwas über „Mut“ erfahren will, soll auch nach „Angst“ suchen.

Die innere Vorstellung soll eine Ellipse sein. Eine Ellipse hat ja zwei Brennpunkte, während ein Kreis nur einen hat. Ordnen wir also auf unser „inneren Tafel“ die Gedanken nicht alle um einen einzigen Mittelpunkt an, sondern gehen wir von zwei Brennpunkten aus.

„Es gibt keine einfachen Antworten“: Dieser Satz spiegelt keine
grundsätzliche Skepsis wider. Es ist nicht der Satz eines vom Leben enttäuschten und in seinen Idealen abgelöschten Menschen. Sondern es ist an vielen Stellen ein Satz, der das Wesen der Bibel widerspiegelt. Dort geht die Wahrheit auf zwei Beinen.

Hintergrund

Mehrgleisige Themen in der Bibel

  • Glaube ohne Werke / Werke nötig für den Gauben (Paulus / Jakobus)
  • Ewiges Leben zukünftig / schon jetzt beginnend
  • Geheiligtes Leben: unsere Aufgabe / das Werk Christi in uns
  • Heiliger Geist: eine Person / eine Kraft
  • Hölle: ewige Qual / komplette Auslöschung der Existenz
  • Christen sündigen nicht mehr / sind nicht ohne Sünde (1. Johannesbrief)
  • Leben in der Kraft der Auferstehung – und in der Gemeinschaft mit Christi Leiden (Philipper 3,10)
  • Wir bewirken unser Heil mit Furcht und Zittern – denn Gott ist es, der das Wollen und Vollbringen wirkt (Philipper 2,12-13)

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel und Herausgeber verschiedener Bibelausgaben. Mehr zum Thema bietet die Artikelserie von Christoph Stücklin „Einerseits und andererseits“ im Magazin „Faszination Bibel“, beginnend mit der Ausgabe 3/2023 (August).

Nächste Folge in AUFATMEN 4-23 (November):
„Biblische Theologie auf einem Bierdeckel?“:
Warum es nicht den einen einfachen Auslegungsschlüssel gibt