Die Kunst der Unterscheidung – Türöffner-Serie Teil 1

Die Kunst der Unterscheidung

TÜRÖFFNER FÜR GOTTES WORT

Die Bibel ohne Expertenmodus verstehen
FOLGE 1: TEXTE UNTERSCHEIDEN

„Was will Gott mir damit sagen?“ – Bibellesen kann ziemlich kompliziert sein. In seiner „Türöffner“-Serie erklärt Ulrich Wendel, wie man die Bibel besser versteht, auch wenn man auf sich alleine gestellt ist. Im ersten Teil geht es darum zu verstehen, dass Texte ganz unterschiedliche Absichten haben können.

Bibellesen ist manchmal wie Achterbahn fahren. Gerade noch geht es gemächlich aufwärts und ich freue mich an der Aussicht – und dann rausche ich in den Abgrund und mein Magen möchte meinen Körper verlassen. Die Bibel hält viele solcher Gefühls-Wechselbäder bereit. Nach herzerwärmenden Abschnitten kommen plötzlich Sätze, die ich überhaupt nicht verstehe. Gern würde ich einen Experten aus dem Schrank holen, der mir das jetzt erklärt.

Ein Beispiel, mitten aus der Bibel gegriffen: Der Prophet Elisa ist in Jericho und hört, dass das Wasser dort die Menschen krank macht. Er lässt sich eine Schale Salz bringen, schüttet sie in die Quelle aus – und von da an ist das Wasser gesund (2. Könige 2,19-22). Eine erfreuliche Geschichte: Gottes Leute helfen anderen, gesund zu werden. Vielleicht soll ich bei passender Gelegenheit auch so ein Mensch sein? Mir fällt ein,  dass auch meine Worte heilsam und klärend sein können: „Eure Rede sei allezeit herzgewinnend, mit Salz gewürzt; ihr müsst wissen, wie ihr einem jeden zu antworten habt“ (Kolosser 4,6).

Direkt im Anschluss aber wird berichtet, wie zwei Bengel aus einer Stadt den Propheten verspotten und ihm „Komm doch, Glatzkopf“ hinterherrufen. Elisa verflucht sie – da kommen zwei Bärinnen aus dem Wald gelaufen und töten 42 Kinder (2. Könige 2,23-25). Was soll das jetzt? Gibt es auch nur irgendeinen I-Punkt in dieser Geschichte, der mir etwas zu sagen haben soll?

Bibellesen kann eine wilde Fahrt sein – eine Fahrt, die uns immer wieder auch verstört. Und da die wenigsten von uns einen Experten im Schrank haben, den sie rausholen können, bleibt die Frage: Wie kann ich mit Gottes Wort zurechtkommen, wenn ich nichts habe als mich selbst und meine Bibel?

Für mich ist die Kunst der Unterscheidung wichtig geworden. Zwei verschiedene Arten habe ich gefunden, wie ein Bibeltext auf mich zukommt. Nachdem ich sie vorgestellt habe, fächere ich diese beiden Gruppen noch weiter in vier verschiedene Kategorien auf.

Beschreibung oder Vorgabe?

Normalerweise gibt es zwei Möglichkeiten, was ein Bibelabschnitt mir sagen will. Entweder er erzählt einfach, was damals passiert ist – oder er sagt, was nach Gottes Maßstäben passieren muss (oder hätte passieren müssen). So war es oder so soll es sein – das sind die beiden Möglichkeiten.

Für diese Unterscheidung kann man markante Begriffe prägen: Bibeltexte sind entweder beschreibend oder vorschreibend. Wer es etwas gelehrter mag: Es gibt deskriptive und präskriptive Bibelabschnitte.

Die beiden Erzählungen aus dem Leben Elisas sind beide einfach beschreibend. Dies und das hat Elisa erlebt. Der biblische Erzähler zieht daraus keine Schlussfolgerungen. Die Begebenheit mit dem heilsamen Salz könnte allenfalls noch ein Hinweis auf Gottes Macht und seinen Wunsch zu heilen sein. Die Geschichte mit den Bären ist meines Erachtens ein Beispiel für gar nichts. So ein Vorfall steht schon im Alten Testament einzigartig da und bildet einen Kontrast zu Gottes oft beschriebener Geduld. Und das Neue Testament sagt über den Umgang mit Spott sowieso ganz anderes.

Diese Unterscheidung kann uns an vielen Stellen sortieren helfen. Polygamie im Alten Testament – ja, sie kam vor. Zu bestimmten Zeiten hatten Männer, die es sich finanziell leisten konnten, mehrere Frauen  gleichzeitig. Die entsprechenden Berichte sind beschreibende Texte. Über den Schutz der Ehe lesen wir an anderen Stellen viel. Die Ehe soll nicht gebrochen werden. Frauen soll man nicht leichtfertig verstoßen und sich später nach Lust und Laune wieder zurückholen. Was hier gesagt wird, ist vorschreibend. Ein Maßstab wird vorgegeben.

Anderes Beispiel: Was soll es in der Apostelgeschichte bedeuten, dass Menschen geheilt wurden, indem der Schatten des Petrus auf sie fiel – oder nachdem man Textilien, die Paulus getragen hatte, auf sie legte  (Apostelgeschichte 5,15; 19,12)? Auch wenn so etwas damals passierte – es ist eine Beschreibung. Wir lesen deskriptive Texte. (Und in die Geschichte mit dem Schatten von Petrus sollten wir mal näher reinzoomen: Dort steht, dass die Leute die Kranken so platzierten, weil sie hofften, sie würden so gesund. Dass dies tatsächlich geschah, steht da aber nicht. Der Bericht spricht von den Erwartungen der Leute und nicht vom Handeln Gottes.)

Daneben gibt es aber Aussagen von Jesus, mit denen er die Jünger beauftragt und bevollmächtigt. Sie sollen Kranke heilen, sie sollen für sie beten, ihren die Hände auflegen. Später ordnet Jakobus an, man solle  Kranke mit Öl salben. All das sind Vorgaben, in Worte gefasst durch präskriptive Texte. Und auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der sich eines Verletzten erbarmte und gängige medizinische Mittel anwandte, ist präskriptiv zu verstehen: „Geh hin und handle ebenso“ (Lukas 10,37).

Für mich folgt daraus erst einmal eine Gelassenheit beim Bibellesen. Ich muss mich nicht immer aufregen, wenn ich von schrägem oder grenzüberschreitendem Verhalten lese. So sind wir Menschen doch nun einmal. Manchmal kommen unsere schlechtesten Möglichkeiten zum Vorschein. Mit Gott muss das nicht in jedem Fall etwas zu tun haben. Dass die Bibel nicht jedes Mal ein schlechtes Verhalten negativ bewertet, sondern einfach so stehen lässt – das gehört zu den Dingen, die sie ihren Leserinnen und Lesern zumutet.

Für die beiden beschriebenen Möglichkeiten habe ich noch eine weitere Bezeichnung gelernt: Texte können entweder Wirklichkeit spiegeln oder Wirklichkeit stiften. So formulierte es mein leider sehr früh verstorbener Doktorvater in einem Seminar.

Wirklichkeit spiegeln bedeutet: Die Texte zeigen deutlich die Spuren des kulturellen Umfeldes und der menschlichen Erfahrung. Ich finde, damit passiert schon etwas Großartiges. Beim Lesen merken wir: Was ich in meinem Leben erlebe und auch erleide, kommt in der Bibel vor. Es ist gewürdigt, als Erfahrung seinen Platz in Gottes Wort zu haben.

Wirklichkeit stiften heißt: Die Bibeltexte bringen eine neue Dimension ein, die über das bloß Menschliche hinausgeht. Gottes Wirklichkeit kommt zur Sprache – und die verändert unsere Wirklichkeit.

Eine Skala mit vier Einheiten

Statt in zwei große Kategorien kann man Bibeltexte auch noch differenzierter einteilen, und zwar in vier Gruppen. Folgendes kann ein Bibelabschnitt sein:

• ein Bericht
• ein Bekenntnis
• eine Verheißung
• ein Auftrag.

Je weiter man nach „unten“ in dieser Skala kommt, desto verbindlicher wird das in diesem Text Gesagte.

Berichte entsprechen meist den beschreibenden Texten, wie eben entfaltet. Es gibt aber auch Berichte, die Gottes Handeln bezeugen wollen. Sie haben schon eher allgemeine Bedeutung. Sie „stiften“ auch Wirklichkeit, denn sie zeigen, was Gott konnte, was er wollte – und was er vielleicht auch heute noch kann und will.

Bekenntnisse zielen noch mehr aufs Allgemeingültige. Sie sprechen nicht nur von Gottes Taten, sondern leiten daraus Einsichten über sein Wesen ab. In vielen Psalmen lesen wir beides ineinander geflochten: wie Gott an einem Einzelnen handelte und wie er dadurch charakterisiert ist. Wie können wir ermessen, ob Gott tatsächlich auch für andere so ist oder ob wir nur einen Einzelfall vor uns haben? Indem wir die Bekenntnisse mit anderen Schriftstellen vergleichen. Oft wird ein Bekenntnis nämlich von weiteren Stellen bestätigt. (Die Verweisstellen in vielen Bibelausgaben sind hier eine gute Hilfe. Damit sind wir noch nicht im Expertenmodus, sondern können allein mit unserer eigenen aufgeschlagenen Bibel weiterkommen.)

Mit einer Verheißung hat Gott sich noch mehr festgelegt – und uns damit festen Boden gegeben, auf dem wir stehen können. Dennoch müssen wir auch an dieser Stelle unterscheiden: Gilt ein Versprechen zunächst nur einem Einzelnen? Oder Israel, dem Volk Gottes? Oder tatsächlich allen Menschen? Allen Menschen gilt z. B. die Beschreibung der Zuwendung Gottes, wie Paulus sie in Athen predigt (Apostelgeschichte 7,25). Allen Menschen gilt auch das Versprechen: „Siehe! Er kommt mit den Wolken des Himmels. Und alle werden ihn sehen – sogar die, die ihn durchbohrt haben. Und alle Völker der Erde werden um ihn trauern“ (Offenbarung 1,7). Doch auch Verheißungen mit einer enger gefassten Zielgruppe können uns Christen gelten: entweder weil sie Grundsätzliches über das Herz Gottes sagen – und Gott hat diese Herzenseinstellung speziell seinem Volk Israel gezeigt, hat sich aber uns gegenüber nicht grundlegend verändert. Oder eine Verheißung gilt uns Jesusleuten, weil wir in Gottes erweitertes Volk hineingenommen sind. Auf dieser Basis haben Verheißungen eine große Verbindlichkeit für uns.

Bei einem Auftrag schließlich ist die Relevanz am höchsten. Ein Auftrag sagt uns nicht nur, was wir erhoffen können, sondern was wir tun sollen. Die Unterscheidung zwischen Auftrag und Verheißung war schon für Jesus wichtig. In der Wüste wurde er mit der Verheißung konfrontiert, dass Gottes Engel ihn auf den Händen tragen würden. Sein Auftrag war allerdings nicht, das auszutesten und von der obersten Mauer des Tempels zu springen – sondern sein Auftrag war, Gott nicht herauszufordern (Matthäus 4,5-7). Viele Aufträge sind sehr klar für uns formuliert. „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus“ (Jesaja 58,7) – daran gibt es wenig zu deuteln.

Die Skala von „Bericht“ bis „Auftrag“ hilft uns zu erkennen, wie ein Bibeltext auf uns zukommt und was er in uns auslösen will. Je mehr wir uns in die Kunst der Unterscheidung einüben, desto klarer kommen wir Gottes Wort auf die Spur.

Dr. Ulrich Wendel ist Chefredakteur des Magazins Faszination Bibel und im Verlag SCM R.Brockhaus verantwortlich für die Konzeption komplexer Bibelausgaben. Das Thema der Verheißungen hat er entfaltet in: „Das Buch der Versprechen. Die Bibel mit allen Verheißungen Gottes für dich“.

Nächste Folge in AUFATMEN 3-23 (August):
„Die Wahrheit geht auf zwei Beinen“:
Dr. Ulrich Wendel über die Tatsache, dass die Bibel oft „einerseits – andererseits“ sagt.

Die AUFATMEN-Challenge: Ein Tag ohne Urteil

Die AUFATMEN-Challenge: Ein Tag ohne Urteil

Eine Einladung ins Trainingslager für Neuanfänge:Veränderung in kleinen Schritten angehen.

Von Martin Gundlach

Vor genau einem Jahr, an Himmelfahrt 2022, begann eine Frage an mir zu nagen: Martin, würdest du es schaffen, zwei oder drei der Live-Gottesdienste, die heute gestreamt werden, anzusehen – ohne in Gedanken irgendetwas zu kritisieren? Ohne Verbesserungsvorschläge vor dich hin zu murmeln und innerlich den Kopf zu schütteln? Es ärgerte mich schon eine ganze Weile, dass sich in mir so schnell Kritik leise oder laut breit machte.

Es wird dir doch gelingen, dich einfach ein paar Stunden daran zu freuen, dass das Wort Gottes in die Welt hinausgeht, dass gesungen wird, gebetet, gepredigt – und das auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Das ist doch gut, oder?

Ich hatte Glück: Das Christival wurde bei Bibel-TV übertragen, der Katholikentag bei den Öffentlich-Rechtlichen und jede Menge Futter in den Livestreams bei YouTube. Also hab ich einfach mal mit besten Vorsätzen zwei, drei Stunden gezappt. Bin mal zwanzig Minuten beim Katholikentag eingetaucht, dann bei den Jugendlichen vom Christival. Und zwischendurch einfach mal fröhlich durch die digitale Christenheit: freikirchliche Gottesdienste hier und eine Messe in Österreich dort.

Ehrlich gesagt: Ich war von mir selbst enttäuscht. Es fiel mir so schwer, ein paar Stunden nur auf das Gute zu sehen. Der Kritiker in mir war kaum zum Schweigen zu bringen: „Ist das Weihrauchschwenken nicht unendlich weit von unserer Wirklichkeit entfernt?“ „Ist die Bühnenshow nicht eine Performance wie jede andere?“ „Wer versteht eigentlich diese Sprache?“ „Wie echt ist das denn alles?“ …

Anstatt zu feiern, dass so viele Menschen sich einbringen und engagieren, fielen mir Dinge auf, die man „besser machen könnte“. Statt der Freude, dass Gottes Wort hierzulande in aller Freiheit verkündet werden kann, machte sich Unmut breit über die Anteile, die „nicht zeitgemäß sind“ oder „zu schwer zu verstehen“ oder auf der anderen Seite „zu stark vereinfacht“. Ich kam mir manchmal vor wie einer der beiden Alten in der Muppet Show, die oben auf dem Balkon sitzen und leise vor sich hin mäkeln. Die Älteren erinnern sich …

Erst einmal applaudieren

Also habe ich mir diese Challenge regelmäßig verschrieben. Ich nenne sie „Ein Tag ohne Urteil“, tatsächlich ist sie meistens kürzer. Sie kann an ganz unterschiedlichen Orten stattfinden: einen Nachmittag im Verlag, einen Gottesdienst lang in unserer Gemeinde in Witten, eine Hunderunde inklusive der Begegnungen, die dort stattfinden: nur das Gute sehen und meine Umgebung anfeuern, aufbauen, gut über sie denken und gut von ihr sprechen. Über die vermeintlichen Fehler ein paar Stunden lang einfach hinwegsehen. Niemanden beurteilen oder gar verurteilen.

Ich gewinne Spaß an dieser Übung. Ich merke, wie diese Zeiten mich verändern. Ich bin unterwegs in eine Richtung, die mir gefällt. Nicht ohne Rückfälle, aber ich habe das Gefühl: Die Richtung stimmt …

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich darf auch Kritik sein. Muss auch Kritik sein. Aber ich möchte die Kritik im Griff haben – und nicht umgekehrt erleben, wie sie über mich kommt. Ich möchte lernen, erst einmal das Gute zu sehen – und nicht sofort zu bewerten und mein Urteil zu fällen. Sondern erst einmal hingucken, verstehen, das Engagement wertschätzen und fröhlich applaudieren.

Leicht fiel mir dieser Applaus bei dem Gottesdienst, den unsere Jugendlichen gestaltet haben. Ich kenne die meisten der handelnden Personen von klein auf, ich mag sie und freue mich dran, dass sie so engagiert bei der Sache sind. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn irgendwas nicht klappt und der Redefluss mal versiegt, ein schiefer Akkord zu hören ist oder Vokabeln benutzt werden, die normalerweise im Gottesdienst nicht verwendet werden. Ich merke, was für einen Unterschied es macht, wenn da eine Beziehung ist, ein Vertrauensvorschuss für sie. Ich kenne die doch. Ich weiß, sie geben das Beste, was sie haben. Und das reicht …

Die Challenge

Ich möchte euch einladen, diesen Weg zu beschreiten. Einladen zur AUFATMEN-Challenge „Ein Tag ohne Urteil“. Oder drei Stunden ohne Urteil. Oder ein Gottesdienst ohne Urteil („Warum kommen die eigentlich zu spät, die haben doch keine kleinen Kinder mehr?“). Ein Elternsprechtag ohne Augenverdrehen über Vielredner oder Dauerschweiger. Einen Tag lang Social- Media-Kommentare, die nur positiv
sind. Eine Team-Besprechung ohne die lang eingeübten Machtspiele.

Definiert eure eigene Challenge. Die Möglichkeiten sind viele, nennt es wie ihr es wollt. Es geht nicht um naives oder einfältiges Ja-Sagen. Sondern um eine Übung, eine geistliche Übung: zunächst einmal das Gute sehen und das Gute anfeuern. Wie oft finden wir im Neuen Testament die Momente, in denen Jesus durch seinen barmherzigen Blick auf die Menschen alle Umstehenden komplett überrascht hat.

Übung geht nur mit Üben. Macht die Hürde nicht zu hoch und das Vorhaben lieber erst mal nicht zu umfangreich. Mir hat es geholfen, das Projekt auch ein bisschen spielerisch-sportlich zu sehen. Am Ende könnte es ein Neuanfang sein, weil unser Blick und unser Denken sich wirklich verändert haben.

Und ich bitte euch: Schreibt eure Erfahrungen, Erfolge und Rückschläge an uns. Eure kleinen ersten Schritte genauso wie das  lebensverändernde Aha-Erlebnis.

Ich würde mich riesig freuen, in einer der nächsten Ausgaben ein paar Erfahrungsberichte zu teilen. Ich rechne fest mit euch!

Martin Gundlach ist Redaktionsleiter von AUFATMEN. Rückmeldungen aller Art gerne an info@aufatmen.de.

 

Ohne Urteilen – die Challenge kompakt

1. Aufgabe formulieren
(z. B. ein Mitarbeitertreffen ohne herablassenden Gedanken und inneres Augenverdrehen)

2. Zeitraum festlegen
(z. B. Mittwoch 18-20 Uhr)

3. Challenge durchführen
und sich dabei selbst beobachten

4. Danach: Welche Gedanken und Gefühle haben sich breit gemacht?
Ergebnisse z.B. in einem Heft sichern

5. Ein paar Sätze zu dieser Erfahrung…
an die AUFATMEN-Redaktion schreiben: info@aufatmen.de.
Oder mit anderen ins Gespräch dazu kommen.

Ehrenkodex – Unser Umgang miteinander am Runden Tisch

Ehrenkodex – Unser Umgang miteinander am Runden Tisch

Ulrich Eggers war zu Gast beim „Runden Tisch Österreich“ und berichtet in AUFATMEN 3-23, warum im gemeinsamen Handeln der Ausweg für theologischen Streit liegt. Hier findet ihr den gesamten Ehrencodex für das Miteinander am „Runden Tisch“.

  1. Wir glauben einander den Glauben

1.1     Wir gehen davon aus, dass jeder Teilnehmer am Runden Tisch ein echter Christ ist. Wir tun dies auch dann, wenn es zwischen manchen von uns schwerwiegende und leidenschaftlich vertretene Meinungsverschiedenheiten gibt.

1.2     Wir gestehen einander zu, Gott zu lieben, ihm und einander nach bestem Wissen und Gewissen dienen zu wollen. Wir glauben einander, dass es die Absicht eines jeden von uns ist, seine eigene Beziehung zu Jesus Christus zu vertiefen und andere zu Christus zu führen, dass wir uns alle nach dem Reich Gottes sehnen und danach, dass Gottes Wille geschieht, hier auf Erden so wie im Himmel.

1.3     Weil wir überzeugt sind, dass wir alle Kinder Gottes sind, mit aufrichtigen, biblischen Glaubensüberzeugungen, wollen wir einander kennen und verstehen lernen.

1.4     Wir stehen zueinander und bekennen uns zueinander auch in der Öffentlichkeit. Alle sollen wissen, wer unsere Freunde als Glieder ihrer jeweiligen Kirchen sind. Wir verleugnen unsere Freunde selbst dann nicht, wenn uns diese Identifikation mit ihnen schaden sollte.

1.5     Wir werden die anderen nicht als Proselyten in unsere Glaubensgemeinschaft zu ziehen versuchen oder sie anders von ihrer Herkunftskirche entfremden.

1.6     Wir sprechen anderen, mit deren Umgang wir uns leicht tun, nicht ihre echte und vollgültige Mitgliedschaft in ihrer Herkunftskirche ab (z.B.: „Wenn einer so denkt, kann er kein wirklicher Katholik sein!“).

 

  1. Einheit in der Verschiedenheit

2.1     Wir akzeptieren, dass die verschiedenen Teilnehmer am Runden Tisch unterschiedliche Prägungen, Erkenntnisse und Überzeugungen im Glauben mitbringen.

2.2     Wir schätzen deren Identifikation mit der eigenen Glaubensgemeinschaft sowie die damit einhergehenden tiefen Glaubensüberzeugungen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass wir „Einheit in Vielfalt“ leben können.

2.3     Wenn wir Meinungsverschiedenheiten austragen, versuchen wir die Hintergründe der Unterschiede sowie der „anderen“ Glaubensüberzeugungen zu verstehen, in geschwisterlicher Liebe zu respektieren und auch schwer Annehmbares zunächst stehen zu lassen.

2.4     Wir wissen, dass unser eigenes Begreifen, Erkennen und Verstehen nur Stückwerk ist. Wir wissen, dass auch das Erkennen und Verstehen unserer Herkunftskonfession nur Stückwerk ist und dass folglich vieles in unserer eigenen Glaubensgemeinschaft unvollkommen ist.

2.5     Wir wissen, dass keine christliche Tradition frei von den Auswirkungen menschlicher Sünde ist, auch nicht unsere eigene. So ist es wahrscheinlich, dass es auch in unserer Herkunftskirche irrtümliche Auffassungen gibt. Dieses Wissen macht uns demütig und bereit diese Sünden der Kirchengeschichte zu benennen und zu bekennen.

2.6     Es ist umso wahrscheinlicher, dass die historisch gewachsenen und uns liebgewonnenen Meinungen der eigenen Herkunftskirche über die anderen christlichen Traditionen Missverständnisse, ja sogar Irrtümer enthalten.

2.7     Wir sehen und betonen in allen Begegnungen das Gemeinsame.

2.8     Wir schaffen ein Klima der Offenheit, in dem wir voreinander echt und ehrlich sein können, voneinander lernen und in unserem gegenseitigen Verständnis wachsen können.

2.9     Wir lösen uns von einem defensiven Gesprächsmuster. Wir wollen die kritischen Fragen der Brüder und Schwestern nicht länger als Angriff interpretieren, sondern als den ehrlichen Versuch zu verstehen.

 

  1. Zur Sprache und Gesprächskultur

3.1     Wir begegnen einander in jeder Gesprächssituation mit Respekt, Achtung und Wertschätzung und drücken das auch durch aktives Zuhören und in der konkreten Wahl der Worte aus.

3.2     Wir wollen die kulturelle „Sprache“ der anderen christlichen Tradition verstehen lernen, um die unterschiedlichen Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen nicht falsch zu interpretieren.

3.3     Wir bemühen uns in jedem Gespräch, auch im theologischen Diskurs, Formulierungen zu verwenden, die der andere bestmöglich verstehen kann.

3.4     Um Missverständnisse zu vermeiden, benützen wir Kommunikationstechniken wie  „Ich-Botschaften“, das „Spiegeln“ der Aussagen des anderen und anderes mehr.

 

  1. Vom Konflikt zur Gemeinschaft

4.1     Wir glauben, dass alle an diesem Prozess mit redlichen Motiven und aufrichtiger Motivation beteiligt sind.

4.2     Wir bemühen uns um Einigung und Einheit, ohne dass dies immer auch zu einem „gemeinsamen Nenner“ führen wird.

4.3     Unsere Diskussionen über kontroverse Themen dienen in erster Linie dazu, dass wir immer besser verstehen, was die anderen glauben, und warum sie es glauben. Andere Diskussionsziele wie das Erreichen eines „gemeinsamen Nenners“ sowie der Versuch, die anderen von unserer eigenen Positionen zu überzeugen, sind nachrangig.

4.4     Wir vermeiden polemische und polarisierende Formulierungen. Diese erschweren eine faire und objektive Diskussion. Es gilt, auf apodiktische Urteile zu verzichten (z.B.: „Dein Standpunkt ist unbiblisch!“), um stattdessen vorsichtige Verbesserungsvorschläge zu machen (z.B.: „Mir scheint, dass deine Behauptung im Widerspruch zur biblischen Aussage in XYZ steht“). Anstelle einer Festlegung (z.B.: „Unsere Position ist biblisch!“) sollte besser die subjektive Beurteilung ausgesprochen werden (z.B.: „Nach unserem Verständnis entspricht das eher dem biblischen Text“).

4.5     Wir sind bereit, von den anderen etwas Neues zu lernen. Wenn wir etwas Neues erkannt haben, wollen wir das auch den anderen gegenüber eingestehen (z.B.: „Das war mir neu“). Dadurch schaffen wir ein Klima der gegenseitigen Offenheit und Lernbereitschaft.

4.6     Wenn wir glauben, der Aussage eines anderen widersprechen zu müssen, wäre es hilfreich, zuerst zu wiederholen, was dieser gesagt hat. So wollen wir sichergehen, dass wir die Aussage richtig verstanden haben: „Wenn ich dich recht verstehe, dann meinst du, dass …“. Damit vermeiden wir ein Missverständnis. Gleichzeitig ist es sehr hilfreich, jene Teile der  Aussage des anderen, denen wir zustimmen können, positiv zu unterstreichen. So vermitteln wir unseren Gesprächspartnern, dass wir ernsthaft versuchen zu verstehen.

4.7     Aufeinander zuzugehen ist wie die Begegnung verschiedenartiger Kulturen. Wir müssen zuerst die theologische und kulturelle Sprache der anderen erlernen und verstehen. Viele religiöse Begriffe haben unterschiedliche Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen in den verschiedenen Traditionen. Begriffe wie „Bekehrung“, „gerettet werden“, „Kirche“, „Seelsorge“, „Anbetung“, „Tradition“, „Wort Gottes“ sind ganz unterschiedlich besetzt und dementsprechend belastet. Wenn wir also diese Begriffe zur Darlegung unserer Standpunkte benützen, wollen wir ihren Inhalt für unsere Gesprächspartner ausdeuten oder mit unbelasteten Vokabeln „übersetzen“.

4.8     Wir legen die Haltung ab, etwas als „irrend“ zu verdächtigen, nur weil wir eine Lehraussage nicht sofort in ihrem Gehalt verstehen bzw. in das eigene theologische System einordnen können.

4.9     Das Prinzip des „grünen Wassers“: Wenn jemand kurz vor dem Verdursten ist, wird er auch das grünliche Wasser trinken, wenn es ihm nur Hoffnung gibt, dass es weiter geht. Er wird möglicherweise fragen, „Was ist das?“. Aber weil er die Flüssigkeit braucht, ist er bereit, auch grünliches Wasser zu trinken. Jemand ohne dieses Bedürfnis wird hundert Gründe finden, um nicht trinken zu müssen. So ist es mit uns. Nur wenn wir an der Zerrissenheit des Leibes so sehr leiden, dass wir lieber einige Unklarheiten im Miteinander in Kauf nehmen, um nur ja Schritte in Richtung Einheit weiterzukommen, dann werden wir bereit sein, so manches an „grünem Wasser“ in Sachen Theologie und Christenpraxis zu schlucken, auch wenn sich nicht alles perfekt darstellt.

Wenn wir den anderen christlichen Traditionen begegnen, wird uns vieles wie grünes Wasser vorkommen. Wir müssen Fragen stellen und sollen nicht sofort alles schlucken. Wenn wir aber ein Herz für die Einheit haben, dann werden wir bereit sein, so weit wie möglich zu gehen, um das Gemeinsame zu sehen und zu einer Einigung zu kommen. Dieses Verlangen wird auch die Art der Fragen prägen, die wir den anderen stellen: nicht vom Wunsch geleitet, unsere Distanz aufrechtzuerhalten, sondern gute Gründe zu finden, um weiterzumachen.

4.10   Wir wollen hinter dem Unverständlichen zunächst eher die Chance eines Schatzes sehen, als zuerst die Gefahr des Irrtums.